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Clericus: Erinnerungen aun meiner Pastoralzeit. 635
„Mystisches* einreihen könnte. Ich kam 1887 als Kaplan
nach Z. am Main in das Haus eines würdigen Geistlichen,
dem seine beiden Schwestern den Haushalt führten. Zwei
dieser Geschwister waren offenbar mystisch veranlagt, der
Pfarrer und besonders die ältere Schwester, während die
jüngere Schwester eine sehr nüchterne Natur war. Der
Pfarrer behauptet, es sei ihm öfter begegnet, daß, wenn er
nachts zu einer sog. Provisur (Erteilung der Sterbesakramente
) geholt wurde, er sich deutlich bei seinem Namen
habe rufen hören, bevor es noch am Pfarrhaus angeläutet.
Einmal wollte er des nachts unmittelbar vor Eintritt in
das Haus eines soeben verstorbenen jungen Mannes eine
Schattengestalt an sich vorüberhuschen gesehen haben. —
Die ältere Schwester Marie, eine blühende Erscheinung,
gut gebildet und lebhaften Geistes, war vorher längere
Zeit in Diensten einer vornehmen Familie in Florenz, Paris
und Frankfurt gewesen. Sie wurde, wie sie mir erzählte,
von Paris naeh Hause gerufen, als ihre Mutter schwer erkrankt
war. Von der Pflege der kranken Mutter auf
einem Bett im Nebenzimmer ausruhend, hörte sie sich beim
Namen rufen und sah zu ihrem Erstaunen drei weibliche
dunkle Gestalten vor sich schweben „wie die 3 Parzen*,
die ihr sagten: „Deine Mutter wird in einen anderen
Garten verpflanzt.Ä Erschreckt eilt sie sofort ins Zimmer
der Mutter und findet diese sterbend. — Während ihres
Aufenthalts in Frankfurt bezog ihre Herrschaft v. S. eine
aus der Barockzeit stammende Gartenvilla in der Nähe der
Stadt. Fräulein Maiie L. erhielt ein Zimmer, das man
sonst nicht gern jemand anwies, weil es da „nicht ganz geheuertt
sein sollte. Von diesem Gerücht hatte sie aber vorher
nichts erfahren. In der Nacht erwachte sie plötzlich
und sah eine weiße Gestalt, von der eine intensive Kälte
ausstrahlte, auf« das Bett zuschreiten. Schwitzend vor
Angst verbarg sie den Kopf unter das Deckbett und hatte,
während sie betete, das Gefühl, als habe die Gestalt sich
am Bettrand niedergelassen. Nach einiger Zeit wich der
Druck, sie wagte es, den Kopf hervorzuziehen und sah die
Erscheinung langsam durch die Tür verschwinden. Nachträglich
erfuhr sie, daß dies Zimmer als nicht mehr recht
„geheuer* galt. Viele Jahre später, nachdem sie längst
die Haushaltung des Bruders geführt, machte Frl. Marie
einen Besuch in W. an der Lahn, wo ein befreundeter
Geistlicher, der während der Kulturkampfs jähre im Pfarrhause
zu Z. in Franken amtiert hatte, Pfarrer war. Die
Räume des dortigen Pfarrhauses hatten einst zum Teil als
Gefängnis gedient und waren erst vor einiger Zeit zu einem
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