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662 Psych. Stud. XXXVIII. Jahrg. 11. Heft. (November 1911.)
Ist es möglich, das logische Bedürfnis, das die
moderne Seele zur Wissenschaft hinzieht,
und das psychologische Bedürfnis, das sie
zum Glauben führt, in einer höheren Synthese
zu vereinigen?
Von Dr. med. Bernhard Meißner, Wilmersdorf bei Berlin.
(Fortsetzung von Seite 612.)
Sollte es nicht doch möglich sein, daß sich der Mensch
eine völlig falsche Vorstellung von der Beschaffenheit und
der Bestimmung seines eigentlichen Wesens im Laufe der
Zeiten gemacht hat und daß er demnach, obwohl er fortgesetzt
durch Dezennien und Säkula, ja Millennia hindurch
viel intelligenter geworden ist, bisher völlig auf Irrwegen
gewandelt ist, die ihn nicht und niemals bislang auch nur
im geringsten der Bestimmung zuführten, die er auf Erden
hat? Unzweifelhaft wird jeder mit der Zeit im richtigen
Entwicklungsgänge mitgegangene Mensch die geistigen
Fortschritte der heutigen Kulturmenschheit für sehr bedeutende
, für sehr hohe, durch eigene Mühe und Tatkraft
erworbene Güter ansehen müssen, und derjenige, der nicht
schon das Opfer niedrigster Sinnengelüste geworden ist,
wird es als eine wahre Genugtuung empfinden, wenn er
kraft seiner eigenen geistigen Begabung, falls die materiellen
Mittel dazu reichen, dabei einen bescheidenen Lebensunterhalt
zu bestreiten, an der Bereicherung der menschlichen
Wissenschaften und Künste durch eigene zu machende Erfahrungen
, Erfindungen, Entdeckungen teilnehmen kann.
Denn es herrscht entschieden ein logisches
Bedürfnis, das die moderne Seele zur Wissenschaft
hinzieht. Aber das psychologische Bedürfnis,
das früher so viel mehr Menschen hingezogen hatte zum
Glauben, nämlich an eine höhere Macht über ihnen und an
eine höhere Bestimmung des Menschen als die wäre, nur
hier auf der Mutter Erde ein gutes, von Sorgen und
körperlichen Leiden freies materielles Dasein führen zu
dürfen, nämlich an die Bestimmung. auch noch nach dem
durch unseren persönlichen und individuellen Tod bedingten
Abscheiden von dieser Erde in einem weit besseren
Jenseits weiter leben zu dürfen, als ein vollendeterer
Mensch, ein Gedanke oder auch oft eine Hoffnung, die
früher viele Menschen zum Gutestun an ihren Mitmenschen
beseelte, daß es dort im Jenseits einen Eichter geben
müsse, der über unsere früher auf der Erde vollbrachten
Taten, ja vielleicht sogar auch nur über die von uns begangenen
Gedankensünden richten könnte —: wo ist dieses
psychologische Bedürfnis zum Glauben an eine höhere
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