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Meißner: Das logische Bedürfnis in höh. Synthese zu vereinigen. 6r5
mehr von den Personen, die da maßgebend für Fällung
des Urteilsspruches wären, glauben will.
Am liebsten aber den Gegner, der nicht ebenso denkt wie
er und der sich unter keinen Umständen seinen Ansichten
anbequemen will und kann, im Feuer verbrennen oder ihn
mit anderen Mitteln und Wegen aus der Welt, das heißt
hier als Lebenden von der Erde dauernd hinwegschaffen,
das möchte auch heute noch mancher Mensch in seiner
Unduldsamkeit; nicht am wenigsten möchte das auch das
Gros der Vertreter der sogenannten „exakten* Wissenschaften
mit ihren Gegnern tun, mit den Menschen, die
heute noch an einen Gott und an eine Vorsehung für den
Menschen auf der Erde glauben; und das möchten ebenso
noch die Vertreter der orthodoxen Kirchen mit den
Menschen tun, welche die von den Kirchen überlieferten
religiösen Dogmen für veraltet und für absolut ungeeignet
dazu erklären, der Menschen Glück, d. i. ein des hochstrebenden
, schon zu den größten Erwartungen für die Zukunft
auf Erden befähigten menschlichen Geistes würdiges
menschliches Leben zu fördern oder zu gewährleisten.
Es mag und wird sicherlich in allen diesen Beschuldigungen
und Verdächtigungen gerade immer der Bestrebungen
der gegnerischen Parteien etwas Wahres und
Begründetes liegen. Von der gewaltigen Ausdehnung der
heutigen Wissenschaften haben wir es auf Grund dieser
kurzen Skizze nachweisen können, daß aus ihr noch kein
entfernt genügender Fortschritt des Menschengeschlechtes
auf der Erde ausgegangen ist. Denn was vielleicht an
Intelligenz, ja Intellekt aus ihr für die Menschheit insgesamt
gewonnen worden ist, das ist an Moralgefühl, an
dem Gefühl der Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen
gegenüber seinen Mitmenschen, weil der Einzelne sich als
selbständiges Individuum mehr fühlen lernte nach der Auffindung
der Erkenntnis der Tatsache, daß Wissen Macht
ist, um so reichlicher verloren gegangen. Denn wenn
Wissen Macht ist und Macht Einfluß und Reichtum und
ein herrliches Leben in Freuden und Genüssen aller Art
bedeutet, so war es natürlich für viele wissende und
namentlich meist solche Menschen, die an keinen Gott und
keine Vorsehung und an kein jenseitiges Leben, damit aber
auch an keine Vergeltung glaubten, einfach ein Gebot der
Klugheit, dieses bessere Wissen seinen Mitmenschen gegenüber
aufs gründlichste auszunützen. Daher finden wir
heute mehr, als jemals früher, wo noch mehr Religiosität
und weniger Wissen unter den Menschen zu finden war, den
furchtbaren Gegensatz von Reichtum und Armut, von
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