http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0701
Psychische Studien.
Monatliche Zeitschrift,
vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des
Seelenlebens gewidmet..
38. Jahrg. Monat Dezember. 1911.
I. Abteilung.
Historisches und Experimentelles.
Weihnachten.
Von Hofrat Max Seiling, München.
Das Weihuaehtsfest ist in unserer hastenden, jedes
tiefere Denken und Empfinden ausschließenden Zeit fast
nur noch ein Kinder- und Geschenkfest. Allerdings wird
in den christlichen Kirchen das Geburtsfest des Erlösers
gefeiert; aber viele, allzu viele besuchen die Kirchen nicht
mehr und unter den* Kirchengängern mögen sich nur
wenige finden, bei denen das gottesdienstliche Erlebnis in
Fleisch und Blut übergeht- In freidenkerischen Kreisen
wiederum wird zwar auf die ursprüngliche Bedeutung von
Weihnachten als dem Feste der winterlichen Sonnenwende
hingewiesen; meistens faßt man jedoch dieses kosmische
Ereignis nur materialistisch auf, d. h. man begrüßt lediglich
die wiederkehrende Licht- und Wärmespenderin.
Selbst als Kinderfest wird Weihnachten infolge der
um sich greifenden „Aufklärung" immer poesieloser. Ganz
besonders nüchtern gestaltet sich der Weihnachtsabend —
um vom Pariser Treiben ganz zu schweigen — im skandinavischen
Norden, wo das Ariertum angeblich noch die
reinsten und schönsten Blüten treiben soll. Nun haben
aber einheimische Sachverständige bei den dortigen Germanen
erschreckende Degenerationserseheinungen festgestellt
, und ich selbst habe während eines langjährigen
Aufenthaltes in dem damals noch fast ganz von schwedischer
Kultur getragenen Helsingfors und auf vielen Reisen
in den skandinavischen Ländern durchaus entsprechende
Beobachtungen gemacht. Was nun den Verlauf des Weihnachtsabends
da oben betrifft, so erfreut man sich zunächst
am Anblick des Lichterbaumes, wenn er auch noch so
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