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698 Psych. Btud. XXXVIII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1911.)
sinnlos und ohne allen Bezug weder auf das Christfest,
noch auf die Sonnenwende geschmückt ist. Sodann öffnet
sich immer wieder eine Türe, durch welche von unsichtbarer
Hand wohlverpackte Geschenke hereingeworfen
werden. Den Kindern wird gesagt, daß diese vom Jul-
bock gebracht werden. Das ficht sie aber nicht weiter an,
da auch die kleinsten — und ich fürchte, es kommt auch
bei uns vor — schon ganz genau wissen, daß Eltern und
Verwandte die Geber sind. Ich hörte einen nur vierjährigen
Knaben, der eines seiner Geschenke in der Hand
hielt, fragen: „Wer hat das gekauftWas man unter
dem Julbock zu verstehen habe, konnte mir kein Mensch
sagen; so vollständig verblaßt sind die Erinnerungen an
die einstige Feier des Julfestes, wie man das Fest der
winterlichen Sonnenwende genannt hat. Erst von einem
Fachgelehrten erfuhr ich, daß am Julfest dem Gotte Freyr
Böcke geopfert wurden, mit deren Fellen die auf Freiersfüßen
gehenden Männer sich bekleidet und ihren Angebeteten
Geschenke gebracht haben. Den heutigen Jul-
abend beschließt ein reichliches Essen, das man sich trotz
der während des ©ffnens der zahlreichen Pakete genossenen
Leckereien gut schmecken läßt. Dieses Essen besteht
aus vier merkwürdig zusammengestellten Gängen, die in
keinem Hause fehlen dürfen, nämlich aus Schinken mit
Erbsen, Stockfisch mit Kartoffeln, .Reisbrei, sowie verschiedenen
Torten.
Doch genug von der materiellen und materialistischen
Feier des Weihnachtsfestes. Wenn ich jetzt Einiges über
eine tiefere Auffassung beibringe, tue ich es freilich auf
die Gefahr hin, gar manche taube Ohren zu finden. —
Weihnachten ist ein christliches und ein Sonnenfest. Dabei
handelt es sich nicht etwa um eine von der Kirche geschickt
getroffene Wahl des Zeitpunktes für die Geburt des
Heilandes, sondern um einen inneren Zusammenhang
zweier bedeutsamer Ereignisse. Wenn man im Ernste von
einer Geburtszeit Christi spricht, muß man heutzutage
riskieren, für recht unwissenschaftlich zu gelten, nachdem
rationalistische Professoren (wie Drews) und selbst Pastoren
(wie Kalthoff) bewiesen zu haben glauben, daß Christus als
historische Persönlichkeit gar nicht existiert hat. Ich kann
diese Behauptung trotz allen zu ihren Gunsten angeführten
Gründen nicht anders als drollig finden, da mit ihr eine
Wirkung ohne Ursache angenommen wird. Allerdings muß
man zugeben, daß die bisherige Form der Verkündigung
des Christus sich überlebt hat, und daß „das Licht der
Welt* auf eine neue Art verkündet werden muß, wenn es
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