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Seiling: Weihnachten
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die menschlichen Herzen wieder entflammen soll. Der
Weg zu dieser neuen Art ist zum ersten Male von dem
hervorragenden Philosophen und jetzigen Führer der theo-
sophischen Bewegung in Deutschland, Dr. Rudolf
Steiner, mit der Schrift „Das Christentum als mystische
Tatsache" (M. Altmann, Leipzig) gezeigt worden. Darnach
dürfen die christlichen Urkunden nicht als gewöhnliche
Dokumente angesehen werden, sondern als aus Mysterien-
Traditionen hervorgegangene mystische Schriften. Von
diesem Gesichtspunkt aus verschwinden alle Mängel, die
man den Evangelien mit Hecht vorwerfen kann, wenn man
sich auf den Standpunkt der materialistischen, d. h. nur
auf Sinneserfahrung beruhenden Geschichtsforschung stellt:
die schlechte Übereinstimmung, die UnVollständigkeit und
UnVollkommenheit der Berichte; wie denn auch die strittigen
Zeitpunkte ihrer Entstehung gar keine Rolle spielen.
So erklärt sich namentlich die mangelhafte Übereinstimmung
ganz einfach daraus, daß die Verfasser aus verschiedenen
Mysterien-Traditionen geschöpft haben. Und wenn
die drei ersten Evangelisten, die sogenannten Synoptiker,
Ähnliches erzählen (vollständig stimmen auch sie nicht
überein), dann beweist dies eben nur, daß sie sich an ähnliche
Mysterien-Traditionen gehalten haben. Die Evangelien
wollen also keime gewöhnliche Biographie des Jesus
von Nazareth geben, sondern eine Beschreibung dessen,
was in den jeweiligen Mysterien als typisches Leben des
Gottessohnes längst vorgebildet war. Dabei spricht es sehr
für die hervorragende Persönlichkeit, daß er in vier verschiedenen
Traditionen angehörigen Schriftgelehrten den
Glauben erwecken konnte, er sei derjenige, welcher ihrem
Typus des Gottessohnes vollkommen entspricht.
Eine wichtige Eigentümlichkeit der neuen Auffassung
des Christentunis ist es, beiläufig gesagt, auch, daß der
Schwerpunkt nicht in der Lehre, sondern in der Erscheinung
der übermenschlichen Persönlichkeit Christi auf Erden
gefunden wird. Was Christus gelehrt hat, ist auch vor
ihm schon gelehrt worden Das Wesentlichste ist vielmehr,
daß eine hohe geistige Wesenheit sich verkörpert und am
Kreuz ihr Blut vergossen hat, um der Menschheit in
mystischer Weise zu helfen. Wer einwenden wollte, daß
von dieser Hilfe wenig zu merken sei, dem wäre zu erwidern
, daß er erst wissen müßte, wie es um die Menschheit
stünde, wenn Christus nicht erschienen wäre; andererseits
wirkt diese Hilfe sehr langsam und wird erst in fernster
Zukunft zu voller Geltung kommen. Ein anderer
naheliegender Einwand ist, daß die vor Christus da-
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