http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0716
712 Psych. Stud. XXXVIII Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1911.)
erfordert der Akt des Lesens, daß man die Zeilen mit den
Augen verfolgt. Es gibt noch viele wohlbeglaubigte Fälle
von Krystall - Sehen, wo Hand - und Druckschriften im
Krystall erscheinen, die lesbar sind. Mrs. Verrall ist
ebenso wie Miss Goodrich Freer das, was man im Englischen
einen guten „visualiser* nennt, worunter man eine
Person versteht, die das Bedürfnis hat, den Großteil ihrer
Gedanken in eine sichtbare Form zu kleiden, und es besteht
kein Zweifel, daß ein lebhaftes Gesichts-Vorstell ungs-
Vermögen mit dem Erfolg im Krystall-Sehen eng verknüpft
ist; auch kann man das Letztere gleichsam als eine höhere
Form des ersteren betrachten. Nach Mrs. VerralFs eigenen
Worten ist der Unterschied zwischen einem Bilde im Krv-
stall und einem geistigen Bilde deutlich erkennbar, doch
schwer zu beschreiben; vielleicht wird man mich verstehen
, wenn ich sage, daß das Erinnerungsbild von dem
wirklichen Krystallbild ebenso verschieden ist, wie das
geistige Bild von einer Person von der Person selbst. Ich
glaube, daß sich bei mir das Krystallbild aus den im Krystall
vorhandenen glänzenden Punkten aufbaut, welche zuweilen
auch in das Bild hineingelangen* (wenn diese
leuchtenden Stellen überhaupt vorhanden sind, so müssen
sie sich notwendigerweise auch im Bilde bemerkbar
machen); „wenn aber das Bild einmal entstanden ist, so
besitzt es einen Realitätsgrad, den ich niemals zu erreichen
vermochte, wenn ich ins Feuer blickte oder mir
irgendeine imaginäre 8zene mit geschlossenen Augen zu
veranschaulichen strebte. Gelegentlich ereignete es sich,
daß ich bei näherer Betaachtung mehr zu sehen imstande
war, als auf den ersten Blick; falls ich jedoch ein Vergrößerungsglas
zwischen Krystall und Augen brachte, verschwand
das Bild im Augenblick und es blieb mir nichts
als die Erinnerung zurück."
Letzteres ist eine bemerkenswerte Tatsache, hier aber
soll gezeigt werden, daß, wie Kenner der Optik wohl wissen,
Konvex- oder Sammel-Linsen hauptsächlich deshalb vergrößern
, weil sie, indem sie den Gegenstand dem Auge
nähern)eken, eine genaue Prüfung desselben ermöglichen;
und die Tatsache, daß ein Krystallbild bei einer genaueren
Untersuchung mehr Einzelheiten aufweist, ist daher ein
ebenso guter Beweis für seine Objektivität, wie jene, daß
es durch Vermittelung einer Sammel-Linse vergrößert
wrerden kann, so daß die beiden Tatsachen von der Wirksamkeit
einer größeren Annäherung und vom Verschwinden
des Bildes bei Benützung eines Glases sich auf den ersten
Anblick direkt zu widersprechen scheinen. Es ist jedoch
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1911/0716