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Meißner: Das logische Bedürfnis in hob. Synthese zu vereinigen. 72S
liehen Gemeinden noch klein und ihre Mitglieder noch
wenig zahlreich waren, die Gebote der christlichen Liebe
und Duldung befolgt und sie auch allen ihren Gemeindemitgliedern
ans Herz gelegt haben: als die Geistlichkeit
mit der Kirche zur Macht im römischen Weltreiche erwuchs
, als sich die Anzahl der Gemeinden und der einzelnen
Gemeindemitglieder so sehr mehrte, daß sie ihre vielen
Anhänger nicht mehr alle persönlich kennen konnten, da
war es auch mit dem eigenen vorbildlichen Nachleben der
menschenfreundlichen schönen Lehren Jesu Christi, um
deren willen dieser selber, um der Menschheit damit zu
dienen, in den Tod gegangen war, vorbei! Leere Worte
traten nun an die Stelle schöne Vorbilder gebender Taten.
„Weil des Menschen eigene Natur durchaus und immer der
Sünde gegen Gott und seine Mitmenschen , schon weil die
ersten Menschen mit dem Sündenfall die Erbsünde in die
Welt gebracht hätten, unterworfen wäre und ewig sündhaft
bleiben müsse, weil Jesus Christus jedoch als einziger
Mensch vollständig sündenfrei gelebt hätte und sündenfrei
gestorben wäre, so könnte er niemals auch nur ein „Mensch",
sondern müßte in Wirklichkeit von göttlicher Abstammung,
in Wahrheit Gottes leibhaftiger Sohn gewesen sein, der
nun, weil er als ein völlig Sündloser unsere Sünden in
seiner großen Liebe für uns mit in seinen Tod an den
Kreuzesstamm genommen habe, auch uns allein von unseren
Sünden erlösen könne, wenn wir an ihn als den Sohn
Gottes und wahrhaftigen Gott, von dem schon die früheren
Propheten gesprochen hätten als dem kommenden Heilande
der Welt, glaubten.* Wie kniftlich und schlau ausgelegt!
Es mag sein, daß eine solche Auslegung der Liebestaten
Jesu Christi manche Menschen dazu bewog, nach
Christi Lehren und Beispiel zu leben. Wir erhalten ja
dafür verschiedene Beweise aus dem standhaft ertragenen
Martertode vieler Christen in den großen, in den ersten
Jahrhunderten nach Christi Tode im ganzen römischen
Weltreiche meistenteils auf Veranlassung der Kaiser selbst
veranstalteten grausamen Christenverfolgungen. Manche der
frommen Christen, die damals den Märtyrertod jedenfalls
unter entsetzlichen Qualen erlitten hatten, sind später von
der katholischen Kirche unter die Schar der Heiligen
Gottes versetzt worden. So lagen wohl die Verhältnisse
mit den guten Taten der Christen in den ersten Zeiten.
Als aber unter dem römischen Kaiser Konstantin, dem
man wegen seiner schweren moralischen Gebrechen kirchlich
erseits sehr mit Unrecht den Beinamen des Großen
gegeben hat, rein aus Staatsraison die christliche Religion
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