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728 Psych. Stud. XXXVIII. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1911.)
Gott selbst inspiriert worden sein soll, so dürfte das ein
frommer Wahn der einen Person oder der Personen gewesen
sein, die den Inhalt der Bibel vielleicht in guter,
menschenfreundlicher Absicht verfaßt und niedergeschrieben
haben. Daß aber der Inhalt der biblischen Schriften kein
von solcher unendlichen, jegliche Menschengröße überragenden
Macht, selbst wenn wir deren Existenz für möglich
halten würden, inspirierter sein kann, das sehen wir bald
bei nur einigermaßen genauer Prüfung ihres Inhalts aus
den vielen menschlichen Unvollkommenheiten und Widersprüchen
, die sich überall aus den Spalten und einzelnen
Erzählungen dieses Buches äußern und hervordrängen, die
durchaus auf einem naturwissenschaftlich und allgemeinwissenschaftlich
oft noch recht niedrigen Bildungsniveau
stehen und unmöglich darauf Anspruch erheben können,
allgemein giltige Wahrheiten für die Menschen zu
bringen.
So und ähnlich muß in der Tat die Ansicht aufgeklärter
Menschen lauten, die vielleicht in ihrer frühesten Jugend
kraft des Zeremoniells der christlichen Taufe (bezw. der
jüdischen Beschneidung) noch gläubige Anbeter Gottes und
seines Sohnes Christus oder des Judengottes Jehova, der
noch immer nicht seinen Messias zur Befreiung seines
Volkes aus der Knechtschaft gesandt hat, waren, die aber
dann das spätere Leben lehrte, daß die angeblichen
Gotteslehren der Bibel keine Wahrheiten brachten, sondern
meist nur Hirngespinste und Träumereien einzelner phantastischer
Menschenköpfe gewesen sind. —
Der bisherige Gang der Geschichte der Menschen auf
unserer Erde hat in der Tat gelehrt, daß sich darin nach
den früheren Begriffen, die man sich von einer Gottheit,
die über der Menschheit waltet, gemacht hat, unmöglich
ein hoher Gottesgedanke in schweren Wehen hatte hindurchringen
wollen. Denn was sich bisher auf dem üblichen
Wege der Vermittelung durch die menschlichen Sinne
und durch den Verstand dem Menschen hatte offenbaren
können, das war nur die eine wenig erquickliche und wenig
erhebende, aber anscheinend wahre Tatsache, daß der
Mensch, wie auch alle übrigen Geschöpfe auf der Erde,
einem ehernen unumstößlichen Naturgesetz unterworfen ist,
das vor allem heißt: entstehen; woher, woraus, wozu?, das
Missen wir nicht. Laut diesem ehernen Naturgesetz
bietet sich dann vielleicht kurze Freude und Lust
für den einen, den der Zufall mit Glücksgütern bedacht
und damit überhäuft hat, für den anderen vielleicht das ganze
Leben hindurch nichts als Qual und Leid, warum? Und
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