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44 Psychische Studien. XXXIX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1912.)
Gott, als er uns vor unserer Geburt hypnotisierte, unendlich
viele Momente, ja schließlich unser ganzes Leben
vorausbestimrnt habe. Daß hierbei für das freie Handeln
des Menschen wenig Raum übrig bliebe, muß sich jeder
hiernach selbst sagen; um die unendlich vielen gegenseitigen
Beziehungen unseres Daseins von vornherein befriedigend
zu lösen, würde Gott gezwungen sein, uns so ziemlich
jede Bewegungsfreiheit von vornherein abzuschneiden.
Grund genug, diese Anschauung Berkeley's mit großer
Wahrscheinlichkeit abzulehnen. —
Es ist also sehr wahrscheinlich, daß ein Gegenstand,
zum Beispiel ein Buch, das ich vor mir habe, nicht nur in
meiner Einbildung existiert, sondern in Wirklichkeit, d. h.
es ist auch noch da, wenn ich auch die Augen schließe,
es weggebe etc., es kann sogar meine eigene Existenz überdauern
. Wir können also auf diese Weise, wenn auch nicht
mit absoluter Sicherheit, in unserem Dasein festen Fuß
fassen. Es würde nur noch zu fragen sein, wie ich die
Gegenstände mit den Augen perzipiere, wie ich das Perzi-
pierte verarbeite etc. Beides gehört nicht hierher und ist
auch verhältnismäßig nebensächlich, da zum Beispiel zwei
normale Augen denselben Gegenstand in derselben Beleuchtung
fast gleich sehen. Ebenso verhält es sich auch
mit den anderen Sinnesempfindungen.
Es ist also höchst wahrscheinlich, daß wir es mit einer
wirklich bestehenden Welt zu tun haben und nicht mit
einer eingebildeten; es ist uns daher auch erlaubt, die in
ihr gewonnenen Erkenntnisse nach ihrer größeren und geringeren
Wahrscheinlichkeit zu akzeptieren. Freilich sinkt,
wie aus dem vorher Gesagten ersichtlich ist, die eventuelle
Sicherheit eines Resultates, das wir gewinnen zur großen Wahrscheinlichkeit
herab, wenn wir bedenken, daß das Weltbild,
unter dem wir sie gewonnen haben, selbst nur sehr wahrscheinlich
, aber nicht absolut sicher ist, während eine mit
großer Wahrscheinlichkeit annehmbare Erkenntnis hinsichtlich
des Weltbildes natürlich nichts an Wert verliert.
(Schluß folgt.)
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