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Härlin : Dichter, Arzt und (leisterst her. 175
Ein Vollblutschwabe war Kerner. Bis ins 16. Jahrhundert
zurück konnte er seine Vorfahren im Lande nachweisen
. Das einzige Mal, da er längere Zeit der geliebten
Heimat fern bleiben mußte — es war eine große Studienreise
nach Hamburg, Berlin und Wien nach dem Abschlüsse
seiner Universitätszeit —, da fror ihn bitterlich nach Schwabenland
, Schwabenlaut, Schwaben wein. Der Vater war
Oberamtmann in Ludwigsburg, wo Justinns am 18. September
1786 geboren wurde, und später im klosterberühmten
Maulbronn. Justinus war ein begabtes und eigentümliches
Kind, aber von nicht sehr fester Gesundheit, sensitiv und
zeitig zum Ahnungsreichen, zur Versenkung in Traumland
und Nachtland neigend. Schon in seiner Jugend, die er in
dem „Bilderbuche aus meiner Knabenzeit" mit feinen und
reinen Strichen gezeichnet hat, hat er manches Lied geschaffen
, das, ohne sich voller Selbständigkeit rühmen zu
können, doch die natürliche Klangfülle seiner Seele schön
offenbart. Ich führe ein Gedicht aus Krankheitstagen an:
Sinke, schwacher Wanderstab!
Welke, welke .Leib! Ich will dich nimmer!
Sterne! streuet euren bleichen Schimmer
Auf des Frühverstorbnen Grab.
Mutter! was! Ein Trauerflor?
Kränz' mit Rosea deine grauen Haare;
Die da sterben in dem Lenz der Jahre,
Schweben ja am reinesten empor.
Als es galt, den früh des Vaters verwaisten Knaben
ins Leben einzuführen, versuchte man es mit allerlei. Er
ward zu einem Schreiner getan, dann, weil er zeichnen und
Verse machen konnte, zu einem Konditor, darauf in eine
Tuchfabrik. Aber zu dem allen hatte er keinen Schick; ins
Briefkopierbuch der Fabrik schrieb er ganz in Gedanken
Verse auf den Hund des Direktors ein, und so war er 18
Jahre alt geworden, als ihm endlich die Bahn zum Studium
sich öffnete. Er war von Kind auf ein großer Liebhaber
und ein feiner eifriger Beobachter der Natur gewesen; ein
naturwissenschaftliches Fach wollte er sich wählen; als er
beim Einzüge in Tübingen Rast machte, wehte ihm der
Wind einen Zettel zu, es war ein Rezept, — da war's für
Justinus entschieden: Arzt sollte er werden. Er ward es
und hat es nicht bereut.
Vier glückliche Jahre genoß er im lieben Tübingen,
wo er Freunde fürs Leben fand, den größten von allen in
Uhland. Da sproßte unter dem lebfrohen Studenten ein
frischer schwäbischer Dichterfrühling auf, und Kerner
schaffte wacker mit. War ihm doch eben die schaffensselige
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