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576 Psych. Studien. XXXIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1912.)
subjektive Bewußtsein uns darbietet, in ihrer Entstellung
und in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erforschen.
Indem sie auf eine Analyse jener Erscheinungen verzichtet,
die aus der geistigen Wechselwirkung einer Vielheit von
Einzelnen hervorgehen, ist sie Jndividualpsyehologie. Ihre
notwendige Ergänzung findet sie in der Völkerpsychologie.
Diese untersucht „diejenigen psychischen Vorgänge, die der
allgemeinen Entwicklung menschlicher Gemeinschaften und
der Entstehung gemeinsamer geistiger Erzeugnisse von allgemein
gültigem Werte zugrunde liegen*. Die Geistes Vorgänge
höherer Art, welche die Völkerpsychologie untersucht
, spalten sich wieder in drei Gruppen; die Denktätigkeit
findet ihren Ausdruck in der Sprache, die Phantasie in
Kunst und Mythologie, die gemeinsamen Willensrichtungen
in der Sitte. So zerfällt Wundt's Völkerpsychologie in die
drei Abschnitte: Sprache, Mythus, Sitte. (Eine Charakteristik
der geistigen Eigentümlichkeiten der einzelnen Rassen und
Völker, wobei man bei dem Namen der Völkerpsychologie
denken könnte, bezeichnet Wundt als „spezielle* Völkerpsychologie
und zieht sie nicht in den Betrachtungskreis
Liner „allgemeinen« Völkerpsychologie). .
Mit der konsequenten Durchführung seiner Psychologie,
die als Individual- und als Völkerpsychologie die Geistesvorgänge
des Einzelnen und der Vielheit des Einzelnen
umfaßt, geht Wundt's Stellung zu den Einzel Wissenschaften
und zur Metaphysik Hand in Hand. Wundt lehnt die
Metaphysik nicht ab, sondern will nur kritische Metaphysik,
aber sie soll vor allem die Resultate der Einzelwissenschaften
kennen. „Der Philosoph* — und hierin berührt sich Wundt
mit dem nachkantischen Idealismus —„sollte sich entschließen,
nicht noch einmal das Weltproblem in allen seinen Teilen
von Anfang an lösen zu wollen, sondern die Anläufe zu
solchen Lösungen, die ihm die positiven Wissenschaften
bieten, sollte er aufnehmen, vergleichen, ihre verschiedenen
Ansprüche gegeneinander auszugleichen und sie so weit
wie möglich zu Ende zu führen suchena.
Einige seiner schönsten Gedanken für die Allgemeinheit
legt Wundt in seiner „Ethik" nieder, wozu die Völkerpsychologie
als „Vorhalle44 dient. Indem er jeden Nützlieh-
keitsstandpuLkt ablehnt, wie ihn die englischen Ethiker
vertreten, sieht Wundt das Höchste nicht im Glück des
Einzelnen, des Individuums, sondern in der Kultur und
deren Gütern. In der berühmten Einleitung zur Ethik
finden sich als Schlußsätze die markanten Worte, die Wundt's
Stellung als Philosoph beleuchten: „Das unbrauchbare Gerüst
der Systeme ist hinfällig geworden, aber die lebens-
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