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616 Psych. Studien. XXXIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1912.)
Miß Orme hatte einen Hund, den sie außerordentlich
liebte und nie von sich ließ. Diesen Hund hatte sie der
Freundin für die Zeit der freiwilligen Trennung übergeben,
weil sie, wie sie lachend erklärt hatte, dann sicher sein
könnte, daß der Hund, wenn sie stürbe, gleich in sicheren
guten Händen sei. Der Hund nun schlief im gleichen
Zimmer mit Miß Stephenson, der Gattin des Arztes und
deren Töchterchen. In der Nacht vom 24. zum 25.
wurden die Damen durch ein andauerndes, jammervolles
Heulen und Bellen des Tieres plötzlich geweckt. Miß
Stephenson selbst zündete das Licht an, und so sah sie,
daß der Hund in einer Ecke des Zimmers stand und nach
irgend etwas hinaufheulte und winselte. Plötzlich aber
schrie sie laut auf: „O Miss Orme, Miss Orme, why did
you come to day?" („Warum kamen Sie schon heute?")
,.Wie" fuhr die Gattin des Arztes auf, „Miß Orme ist angekommen
?" — „Ja, Ja," schrie Miß Stephenson, „da steht
sie ja!" Und die Dame und ihre zwölfjährige Tochter
sahen, wie Miß Stephenson auf die dunkle Ecke zustürzte,
gleichsam wie um jemand zu umarmen, während der
Hund immer freudiger an etwas emporwedelte
. Aber dann wieder schrie Miß Stephenson
auf: „She vanished!" („Sie verschwand.") Und langsam
rückwärts gehend, fiel sie fast ohnmächtig der Gattin des
Arztes in die Arme. Auch der Hund hatte plötzlich sein
Winseln und Wedeln eingestellt. Mit allen Zeichen
der Angst verkroch er sich unter das Bett
des Kindes.
„Ja, was ist denn nur, was ist denn nur?" drängte die
erschrockene Dame des Hauses. „Es war ja Miß Orme, es
war Miß Orme!" schrie Miß Stephenson. ,,Sie stand dort
in der Ecke des Zimmers. Haben Sie denn nicht gesehen,
wie Belly an ihr emporsprang und ihr die Hände
leckte?!" „Mein Gott," rief sie dann plötzlich, „jetzt
weiß ich es, Miß Orme ist gestorben! Sie ist gekommen,
um es mir zu sagen!" Ihre Aufregung war so groß, daß
die Frau ihren Mann weckte. Dann stellte man fest, daß
es zwischen 2 und 3 Uhr morgens war. Nach und nach
hatte sich Miß Stephenson in einer eigentümlichen Weise
beruhigt. „Miß Orme ist tot!" sagte sie nur immer wieder
wie geistesabwesend. „Sie hat es mir gesagt und Belly hat
sie auch gesehen."
In fürchterlicher Unruhe hatte man dann bis 7 Uhr
morgens gewartet, bis das Telegraphenbureau geöffnet
wurde. Der Arzt selber sandte ein Telegramm an das
Hotel ab, in dem Miß Orme wohnte, dringend bittend, man
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