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Müller: Von der Duplizität der Dinge.
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lieh sagen: jeder Weinbergsarbeiter bekommt von ihr
seinen Groschen, nicht mehr, nicht weniger.
Es dürfte uns nun eigentlich nicht mehr Wunder
nehmen, wenn wir hier und da im Leben die „ausgleichende
Gerechtigkeit * wahrnehmen, und wir sollten noch weniger
die Geduld verlieren, wenn sich die Dinge lange hinziehen
und die Vergeltung scheinbar aussetzt. Es ist doch ersichtlich
, daß die Umrechnung bei vierteiligen Zahlen
etwas länger dauern muß, als bei ein- und zweistelligen. —
Dazwischen ist es aber doch oft recht erfrischend, die
Sprache des sich selbst helfenden Lebens zu vernehmen;
so zum Beispiel, wenn am 23. August 1912 Diebe den
kostbaren Brüsseler Teppich und einen 8 Meter langen
Läufer aus der Berliner „Gnadenkirche* stehlen müssen,
also Objekte, die nicht wirklich als von Gnaden für alle
zur Verfügung standen, sondern nur denen, die für ihre
Benutzung bezahlten.
Auch während man den Betroffenen das Mitgefühl
nicht vorenthält und das Böse nicht gut heißt, fühlt man
oft eine innere Ubereinstimmung des Gerechtigkeitsgefühls
mit dem äußeren Geschehen. So zum Beispiel, wenn ein
vom einfachen armen Bäckergesellen zum Dampfmühlenbesitzer
mit Dutzenden von eigenen Geschäften emporgestiegener
Erdenbürger, der also des Lebens Drangsal genügend
geschmeckt hatf es ablehnt, armen, heimlosen
Kindern des Berliner Ostens alte Backware zu unentgeltlicher
Speisung zu verabfolgen, einige Monate später
3000 M. Belohnung für die Ermittelung einer verschwundenen
eigenen Tochter öffentlich in den Zeitungen ausschreiben
lassen muß.
Derartige Erlebnisse haben wohl den Ausspruch geprägt
, das Leben sei oft wie ein Roman, und in der Tat
wird man zugestehen müssen, daß die Phantasie nicht selten
weit hinter dem zurückbleibt, was die Wirklichkeit einfädelt
und zuwege bringt. Es wäre vielleicht für den Aufstieg
der Menschheit zur fröhlichen Lebensbejahung nicht
ohne Wert, wenn eine Wissenschaft sich etwas mehr mit
der Beobachtung von Entsprechungen im Kreislauf der
Dinge beschäftigen würde. Jedenfalls könnte eine derartige
Arbeit den Respekt vor dem Leben selbst nur erhöhen,
und das ist ja wohl ein gut Teil vom „Sinn des Lebens*.
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