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722 Psych. Studien. XXXIX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1912.)
Erst wenn der größere Teil der Bewohner moderner
Staaten die Uberzeugung gewonnen hat, daß man sich inmitten
unaussprechlicher Abnormität befinde, daß Gesetze,
Sitten, Einrichtungen und Gewohnheiten zumeist ganz verdorben
sind und durchgreifender Normalgestaltung bedürfen
, kann Eintritt von Besserung erwartet werden.
Dieser Zeitpunkt aber wird hinausgeschoben durch jene,
welche in die Welt posaunen, daß Entartung nur sporadisch
auftrete, nicht pandemisch vorkomme und nur nebensächlichen
Einfluß ausübe; daß alle Eilrichtungen und
Einsetzungen innerhalb der Staatsgesellschaft gut und weise
seien, eventuell bloß kleiner Ausbesserungen bedürften,
gutem Boden entsprossen seien, endlich unversehrt in ihrer
Wesenheit und Form bewahrt werden müßten; daß jedoch
böswillige ,,-Kraten" und ,,-Isten" ein besonderes Vergnügen
daraus sich machten, Fehler aufzusuchen und das Bestehende,
welches doch im ganzen so vortrefflich sei, anzuklagen und
zu verdammen. Diese Leute von Dunkelheit und Stillstand
forderten schon sehr häufig, die Leute des Fortschritts,
der Erkenntnis und des Wohlwollen,«, denen sie besondere,
und zwar weder glücklich gewählte, noch entzückende
Namen verliehen, zu verfolgen und auszurotten. Eigentümlich
, daß diese traurigen Forderer zu strengem Christentum
sich bekannten und dabei in ihre weniger .streng kirchlichen
Artgenossen mit Kartätschen wollten schießen lassen,
ja solches ausführten.
Wäre der Trieb normaler Selbsterhaltung nicht entartet
, wohl aber in Harmonie mit dem Triebe der Sympathie
gepflegt und erhalten worden, -und hätte ersterer
nicht durch Entartung zu Selbstsucht sich gesteigert, so
böte die menschliche Gesittung ein sehr erfreuliches Bild,
Gestaltung des Egoismus wäre verhindert worden und
ruhige, normale Befriedigung des Triebes der Selbsterhaltung
und dessen Harmonie mit altruistischer Gegenseitigkeit
hätten menschliche Gesittung geadelt, Egoismus im
Keime unterdrückt. Der große Haufe Natur- wie Kulturkundiger
oder auch Nichtkundiger, Zänker und Schreier
promovierte Selbstsucht zu dem eigentlichen Urtriebe aller
Geschöpfe und führte jede Daseinsregung auf Egoismus
zurück. Damit wollte man eigentlich alles zerstören, was
zur geistigsittlichen Weltenordnung gehört, und Auf wuchern
des tollsten Egoismus im Dienste von Kapitalismus und
Materialismus tollster Art befördern. Als Folge solchen
Treibens muß notwendig die Unmöglichkeit normaler Be-
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