http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0014
10 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1913.)
Die Revolution und Usurpation hängt mit dem zusammen,
was man in der Theologie den Sündenfall nennt. Das
Erwachen und zu sieh selbst Kommen des gemeinen Ich
mit isolierter Abstraktion vom Mystischen und damit auch
von Universum, Weltinnerem und Gottheit wird in der
biblischen Symbolik als Essen vom Baume der Erkenntnis
bezeichnet. Ein ordnungsgemäßer und glückseliger
Zustand wird erst dann wieder eintreten, wenn sich
die beiden jetzt geschiedenen menschlichen Selbstheiten
zu einer neuen Einheit verbinden^ in wrelc!ier der mystische
Teil, ohne daß sich der gemeine dagegen oppositionell verhält
, die dominierende Stellung behauptet.
Das gemeine Ich weiß als solches nichts von dem
mystischen, es pflegt mit seinem Bewußtsein und Begriffe
ganz nur auf sich selbst beschränkt zu sein.*) Das
mystische dagegen weiß auch von dem gemeinen und umfaßt
dessen Bewußtsein mit dem seinigen. Alles, was in
dem gemeinen ist, das befindet sich auch in dem mystischen;
hier wird auch die Erinnerung dessen bewahrt, was das
Gemeine vergessen hat; dalier man in somnambulen und
hellsehenden Zuständen an Dinge erinnert, die man sonst
ganz aus dem Gedächtnisse verloren. Das gemeine, an das
Gehirn gebundene Ich kann durch einen Druck oder
Schlag auf den Kopf, einen starken Dampf und Qualm,
eine auf den Kopf wirkende Magenbeladung, Unverdaulich-
keit etc. auf das wesentlichste gestört und betäubt
immerfort auf das bewußte Seelenleben, wie auf das, was wir das
absolut unbewußte Seelenleben genannt haben; das Geordnete,
Schöne — wohltätig und fördernd, das Eohe, Unschöne — störend
und hindernd. — Finden wir nun dieses Sekunda** und periodisch
Unbewußte mit dem primär und absolut Unbewußten durchaus in
einem Leben der Seele vereinigt, und ist das absolut Unbewußte
eben das, was wesentlich die Bildung und Umbildung des Organismus
bedingt, so ergibt sich jetzt auch deutlich, warum solche einst
bewußte, aber nun ins Unbewußte wieder eingegangene Regungen
der Seele doch gar wesentlich und immerfort mit auf die Ernährung
und Fortbildung des Organismus Einfluß üben können und müssen
(S. 82).
*) Der somnambule Knabe Richard nannte sein mystisches
Selbst „sein Männchen", davon unterschied er ausdrücklich sein
„ zweites Ich". So sagte er: „Was ich sage, das sagt mein
Männchen; mein zweites loh weiß nichts davon." —
Man fragte: „Wie kommt es aber, daß wir es nicht so wissen
worauf die treffende Antwort erfolgte: „Ihr wißt es eigentlich
auch; ihr wißt es aber nicht, daßihreswiß t."
Ein mystisches Selbst und ein diesem eigenes Wissen ist in jedem
Menscnen; im gewöhnlichen Zustande jedoch latent, dem gemeinen
Ich verboreren, so daß die meisten gar keine Ahnung davon erhalten
.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0014