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18 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1913.)
gleicher Weise, wie in diesem Organismus die Einzelzellen
sich zu Gruppen vereinen, diese zu Systemen und Organen
sich zusammenschließen, so sieht er, wie die einzelnen Individuen
der belebten und unbelebten Natur in ihrer Gesamtheit
nur Organe des Planeten bilden, und in analoger
Weise, wie die Knochen-, Nerven- und Muskelzellen den
Körper, so das feste Grundgerüst und die Weichteile der
Erde aufbauen. Ihm ist diese selbst nicht mehr das tote
Sphäroid, das sich nach unbegreiflichen Gesetzen um einen
anderen toten Körper dreht, sondern seinem künstlerischen
Auge wird sie zur „Mutter* Erde, zum beseelten Organismus
, der in der „Brudersphären Wettgesang" seine gewollte
Bahn vollendet.
Solche Anschauung ist so uralt, wie das seherische
Schauen selbst; die Künstler aller Zeiten haben sie vertreten
, und ihre Darstellung dessen, was sie geschaut,
wurde stets anstandslos hingenommen, sobald sie s o zum
Ausdruck kam, wie sie dem Bilde der Natur entsprach.
Ihre höchste künstlerische Wirkung erreichten diese Darstellungen
überall da, wo sie am meisten frei von aller
subjektiven Färbung eines Lösungs versuch es das ganze
Rätsel des Daseins einfach reflektierten. Hier stört jede
Erklärung; in seiner ganzen stummen Größe muß das
Einzelne wirken; Goethe ging in dieser Empfindung so
weit, daß er sogar den Gebrauch des Mikroskopes verwarf;
er verstand sie, die Abweisung des Erdgeistes: „Du
gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir" und nahm
sie in Demut hin.
Wer in irgend einer Form des Daseins das einheitliche
Sein erkannte, der sei beglückt, daß ihm der Schleier sich
geöffnet hat; wer aber jetzt seine Brille jedem anderen
aufzusetzen sich bemüht, der handelt unrecht, denn nicht
alle Augen sind gleich, und was dem einen zu organischen
Formen sich verdichtet, erscheint dem anderen als verzerrte
Karrikatur.
Dies zur Klarstellung meines Standpunktes, von dem
aus ich an die Besprechung einiger Sehriften gehen will,
die nicht verdienen, fast gänzlich in Verborgenheit zu
bleiben, wie dies bisher der Fall gewesen ist; ich sehe den
Grund darin, daß der redlich forschende Verfasser dem
Fehler verfällt, seinen Mitmenschen gerade sein A.ugen-
glas aufzudrängen. Er ist nun erzürnt und spricht allen
ihn Abweisenden das Verständnis für seine Arbeiten ab.
Mir liegen seine Werke vor, die Ergebnisse emsigen Fleißes,
Meisterwerke in einzelnen Punkten und vergebliche Bemühungen
wiederum, da sie nicht objektiv bleiben. Es
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