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Elster: Kant und die Gegenwart.
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der Vorbereiter unserer deutsehen Klassik, der Vernunft-
philosoph Kant der Herrschende geworden ist. Diese Herrschaft
bedeutet aber nicht mehr eine Vergewaltigung des
deutschen Geistes, wie das nur bei einem Philosophen
der Fall sein kann, der uns noch nicht in historische Ferne
gerückt ist, sondern sie ist eine Erziehung, ist die Pädagogik
unserer Zeit, ist der Grundmaßstab, an dem und mit dem
wir alles Engmenschliche zu messen, zu urteilen beginnen
und auch messen, urteilen müssen.
Kant und sein Werk haben für unsere Gegenwart eine
ungeheure Bedeutung. Das muß offen betont werden, wird
es aber leider viel zu wenig. Es tut not, die geheimen
Unterströmungen, die der geschichtlich Denkende und Gebildete
aus de* Vielheit der lebendigen Beziehungen, Gedanken
, Bestrebungen und Ziele herausfühlt und erkennt,
in ihrer Basis darzutun. Es tut not zu zeigen, woher diese
oder jene Richtung unseies geistigen Seins stammt. Denn
wenn wir das „Woher", wenn w^ir die Quelle alles Werdenden
kennen, dann können wir erst das Werdende selbst kennen
und es kennend in eine bestimmte Richtung, nach einem bestimmten
Ziele leiten.
Wenn der naive Mensch, der philosophisch Ungeschulte,
also der Laie —, ohne daß damit ein beurteilender, verurteilender
Sinn verbunden sei! — über Kant spricht, so faßt
er den Königsberger Philosophen nur auf als den Offenbarer
der reinen Vernunft und er dörrt damit den Wiesenreichtum
des Kantfsehen Gedankenlandes so unheimlich aus, daß er
selbst wie eine Bildungs- und Standesgenossen gar nicht erst
versuchen, den Weg zu Kant zu finden und zu beschreiten.
Und gerade dies ist doch so nötig, daß wir alle Kant, den
größten philosophischen Geist Deutschlands wirklich kennen,
unser geistiges eigen nennen, wie er uns unbewußt schon
von den Tagen der Schule her immer wieder zugeführt
worden ist. Indem wir die klassische Dichtung, Schiller,
Goethe, ja dann auch die Romantik aufnahmen, nahmen
wir Kant auf. Wir alle wissen, daß Schiller, der Philosoph,
ein Schüler des Königsbergers wTar, und wir wissen auch,
daß seine Philosophie im engsten Zusammenhange mit seinem
Scharfen steht, daß die Epochen philosophischen und dichterischen
Schaffens, bei ihm nicht nur getrennt waren, sondern
sogar durch einander gingen: Goethe's Weltleben, Goethe's
Persönlichkeit an sich war möglich ohne Kant allein aus
der Produktivität dieses Genies heraus, aber seine Wirkung
auf seine Zeit und die folgenden Generationen wäre so, wie
sie gewesen ist, ohne Kant unmöglich gewesen. Man pflegt
Heinrich von Kleist, den vor einem halben Jahre enthu-
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