http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0031
Elster: Kant und die Gegenwart.
allein der Glauben hier Gewißheit geben kann, worin Kant
also ein Fortsetzer Luther's ist. Wie kann dies Erkenntnis
für die Gegenwart fruchtbar werden, jedoch so, daß sie
nicht allein auf das Gebiet der Vernunft beschränkt bleibt?
Die Antwort zeigt sogleich den wunderbaren Reichtum
der Kant'sehen Tat Denn sie besagt diese Erkenntnis ist
erst das Erwachen des Menschen! Der Mensch wird sich
durch sie seiner Grenzen, seiner Fähigkeiten, seiner Stellung
im All bewußt. Der Mensch ist als Persönlichkeit erst
durch sie möglich. Denn sie ist die ewiggültige Begründung
alles Menschentums nnd -streben«*. Ohne diese Erkenntnis
gibt es nun kein geistiges Leben mehr. Sie ermöglicht es,
daß der Mensch in voller Bewußtheit sein Leben regeln,
beaufsichtigen kann, sie ermöglicht eine Ethik der Vernunft,
während vorher die Ethik der Religion allein stand, sie ist
die innerliche Befreiung des Menschen, ab^r auch zugleich
seine religiöse Erneuerung. Denn dadurch, daß Kant Vernunft
und Glauben, Philosophie und Religion scharf schied,
hat er nicht etwa die Religion als Phantasiegebilde hingestellt
, wie Tenden^geister behaupten, sondern er hat
dadurch erst die Nebenweltliehkeit der Religion, ihr Nebenmenschliches
, ihr Göttliches bewiesen und die Religion als
unser Ziel in jedem Betracht hingestellt. Denn wie Kant,
der die Existenz der Vernunft bewies, nicht aber die des
Gefühles, das Gefühl nicht leugnen konnte, so konnte er
auch die Notwendigkeit der Religion, des Kindes der Gefühlswelt
, nicht leugnen, nachdem er die Notwendigkeit
aller Vernunftgrenzen gezeigt hatte.
Religion und Vernunft haben durch Kant also eine
Bestätigung erfahren, da das eine notwendig aus dem andern
folgt. Kant zeigte ihre Einheit im Menschen. Dieser erwachte
durch ihn erst zur Bewußtheit, wie schon gesagt.
Diese Bewußtheit bedeutet aber nichts anders, als daß der
Persönlichkeitsbegriff erst lebendig wurde, denn mit dem
Beginne der Bewußtheit fängt auch die Selbsterziehung,
fängt auch die Lebenskunst an! Es bleibt nun nicht mehr
bei einem Augenblicksatmen, sondern wir erhalten die
Möglichkeit, Ewigkeitswerte zu erkennen, zu erstreben und
in seltenen Fällen auch zu schaffen. Der Mensch sieht sich
nun innerhalb der Vernunft (nicht der Religion: sie geht
über die Vernunft hinaus) als Zentrale der Welt, denn
ohne ihn keine Welt. Der Mensch sieht nun sein Leben als eine
viel mehr erkennbare Aufgabe an, und da er weiß, in
welchen Grenzen und mit welchen Mitteln er zu leben, zu
streben, zu arbeiten, zu wirken hat, kann er auch der Aufgabe
seines Lebens bewußter folgen.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0031