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28 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1913.)
Aber nicht genug damit. Nicht nur die Erkenntnis von
der Persönlichkeit ist Kant's Tat. Sondern auch das Gegen-
teil. Würden wir bei einer einfachen Persönlichkeit.-
Schätzung im Zentralsinne der Welt stehen bleiben, so
würden wir verkümmern in einem individualistischen Egoismus
, der alles Gefühls-, alles Produktionsleben töten könnte.
Aber so ist es nicht: die Erkenntnis vom Wert der Persönlichkeit
schließt auch die Erkenntnis vom Unwerte in
sich ein; d. h. haben wir einerseits den inneren Aufgaben
der Persönlichkeit absolut zu folgen, — absolut innerhalb
der Vernunft, — so gibt es andererseits auch Lagen, in
denen wir unsere Persönlichkeit negieren müssen; das kann
sein in der Welt des Gefühls, der Religion, das kann sein
in der Kunst und in der Liebe. —
Die Bereicherung des menschlichen Geistes durch Kant
ist also eine doppelte: wie wir jedes Ding von zwei Seiten,
besser von allen Seiten betrachten können, so nun auch
uns selbst! Wir stellen uns einmal in den Mittelpunkt
der Welt und das andere Mal außer aller Beziehung zur
Welt; Irdisches und überirdisches hat seine Stelle in uns.
Was besagt das? Nichts mehr und nichts weniger als die
Harmonie des Menschentums. Und Harmonie ist Glück!
Wer dies einmal erkannt hat und zwar nicht nur durch
die Vernunft, sondern auch durch das Erlebnis, der wird
die Größe dieser Kantischen Tat in allen Augenblicken
seines Lebens an sich gespürt haben und spüren. Es ist
ei/ie unverlierbare Erkenntnis und es ist die fruchtbarste,
die je geschaffen worden ist, vor allem deshalb, weil sie
unmittelbar und unabän ierlieh gewiß, weil sie wahr ist,
nicht absolut wahr, aber doch <o wahr, wie nur irgend
etwas für die Menschheit im Sinne der Vernunft wahr sein
kann. Aus dieser Harmonie fließen uuzählige Kräfte. Kant
selbst hat aus ihr das wunderbarste Werk seines Lebens
abgeleitet: seine Ethik, die innerhalb der Vernunft die
Ethik des Christentums so großartig bestätigt. Und darin
beruht die Bedeutung Kant's für jeden Laien: daß seine
Ethik Harmonie zu geben vermag! Es ist die falsche
Wertung, die ein Großer wie Kant immer noch erfährt,
wenn man allein seine Vernunfttat zur Beurteilung in den
Vordergrund stellt; nein seine Vernunfttat ist erst die
Begründung der Ethik und dieses ist das höhere Werk.
Während jene eine Kritik war, ein beweisendes Verneinen,
ist dieses das Bejahen, das produktive Schaffen.
Die Laien sollen deshalb in Kant eindringen, nicht, indem
sie zuerst die Welt der Vernunft kennen lernen, sondern
indem sie sich zuerst seiner Ethik zuwenden und von
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