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Elster: Kaot und die Gegenwart.
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dieser rückwärts gehend hindurchdringen zu den Fundamenten
des sittlichen Denkens und Wirkens. Dann allein
kann der Ungeschulte zu einem Verständnis der K an tischen
Werke gelangen und bleibt nicht ermüdet auf einem Viertel
des Weges stehen. Dieser Weg führt zur Läuterung in
jedem Sinne. Diese Läuterung erfährt die geistige Gegenwart
immer wieder. Weshalb ist denn die Kluft zwischen
dem Materialismus oder besser gesagt — denn der eigentliche
Materialismus ist überwunden — zwischen dem Realismus
und dem Idealismus unserer Zeit so groß? Weil man
im Lager des Realismus den Idealismus von Kant abweist.
Kant ist aber gerade derjenige, der die Kluft auszufüllen
vermag mit seiner Ethik, denn sie ist idealistischer Realismus
oder realistischer Idealismus, sie ist praktische Weltweisheit
. Und weiter: wir haben eine Kluft zwischen dem
Erkenntniswesen, dem Rationalismus und dem Bekennertum,
dem Positivismus; auch hier ist Kant der Verbindende, der
Ausgleichende, wie unsere Darlegungen gezeigt haben, denn
der kritische Geist ist die klärende Kraft, durch die alle
Gegensätze ihre feindliche Tendenz verlieren, durch die
der Glückswille des Menschen sein Ziel der Harmonie erreichen
kann. Und schließlich, unsere Gegenwart hat etwas
Wild-Chaotisches, in deren Erscheinungen Flucht der
ruhende Punkt fehlt, von dem aus wir die ganze Wirrnis
unserer Welt beherrschen und besiegen können, von dem
aus wir zum werktätigen Schaffen hindurchdringen; im
Gebiete des Gemütes ist die Religion der ruhende Punkt,
im Gebiete der Vernunft das Hittengesetz, das Sittliche.
Mag sich auch Erkennen, Wollen, Schaffen entwickeln, mag
alles sich wandeln: eines steht seit aller Vergangenheit und
für alle Zukunft fest, eben jenes von der menschlichen Vernunft
erzeugte Sittengesetz, das unser letzter Maßstab ist
und in dem sich unser Leben konzentriert; die Vielheit der
Gegenwart hat hier ihre Konzentration!
Das ist die Bedeutung Kant's für die Gegenwart. Es
sei mir zum Schlüsse nun noch gestattet, auf einige Werke
hinzuweisen, die den Laien zu Kant zu führen vermögen
und die den Anregungen, wenn meine Darlegungen solche
erzeugt haben, Genüge leisten. Da ist zuerst das ausgezeichnete
, jedem Gebildeten verständliche Werk von Dr.
M. Kronenberg: „Kant, sein Leben und seine Lehre," das
schon in 4. Auflage vorliegt (C. H Beck'sche Verlagsbuchhandlung
, Oskar Beck, München 1910). Wir können es
nur empfehlen. Es ist vorzüglich gearbeitet, anschaulich,
faßlich und dabei in jeder Beziehung allen Vertrauens wert,
denn es fußt auf den tiefsten Kenntnissen von Kant's Philo-
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