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82 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1913)
Spiritismus ergeben; der Vater war in seiner Jugend
Epileptiker und interessiert sieh jetzt außerordentlich für
die Geheimnisse des Spiritismus. Der älteste Bruder ist
furchtsam, leicht voreingenommen und unterliegt ebenfalls
der Anziehungskraft des Übernatürlichen.
Jeder in der Familie weiß etwas zu erzählen, Groß und
Klein, Knabe oder Mädchen. Der eine fühlt sich abends,
wenn alles ruhig ist, plötzlich von einer unsichtbaren Hand
an der Schulter berührt; der andere hnt auf seinem Bett
einen großen Schädel gesehen, ein dritter hat einen Knaben
bemerkt mit sonderbarer Mütze, der ihn grüßt; ein anderer
ein weißes Phantom, das während der Nacht als Zwerg erschien
und Grimassen schnitt.
Mlle. Em... hatte in ihrer Jugend keine Krämpfe; sie
hat in normalem Alter gehen und sprechen gelernt und ist
niemals krank gewesen. Die Schule hat sie wenig besucht,
aber sie ist gut entwickelt und besitzt mittlere Intelligen«.
Die ersten spiritistischen Manifestationen zeigten sich ihr
im Jahre 1896. Sie sah tierische Gestalten mit offenem
Rachen, dann menschliche Skelette und hierauf Phantome.
Im Jahre 1902 erschien ihr Tag und Nacht eine ganze
Familie — fünf Personen, die alle ermordet worden waren —;
es war die Familie der Baronin Ermenegarda de Stefani.
Die kleinste der Töchter nannte sich Concettina und sie
verbrachte oftmals die Nächte in ihrer Gesellschaft. Die
Baronin erzählte ihr, sie sei Besitzerin des Hauses gewesen,
das die Familie der Mlle. Em . . . bewohnte; sie liebkoste
das Mädchen, schenkte ihr Kuchen und Bonbons, zeigte ihr
einen Koffer voll Kleinodien und die Kleinigkeit von
anderthalb Millionen, welche sie dem Mädchen versprach,
wenn es zu niemand von ihrem geheimnisvollen Besuche
sprechen würde.
Allein als eines Nachts die Baronin mit einem
Knaben erschien, der einen Sarg schleppte, kam Em . . .
so in Schrecken, daß sie am nächsten Morgen ihrer Familie
alles erzählte. Von da ab ließen ihr die Geister keine
Ruhe mehr und suchten sie Tag und Nacht auf tausenderlei
Art zu erschrecken. Eines Tages -befand sie sich mit
ihren Brüdern allein zu Hause. Plötzlich lenkte das
Kleinste, ein Kind von kaum zwei Jahren, ihre Aufmerksamkeit
auf etwas Sonderbares: vom Hintergrund des
Zimmers kam mit langsamen, feierlichen Schritten eine
Reihe weiß gekleideter Gestalten; sie gingen paarweise, das
erste Paar war klein, die nächsten Paare wurden immer
größer, bis sie zuletzt riesenhaft erschienen. Die Kinder
schrieen vor Angst und Schrecken: die Trauerprozession
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