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88 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1913.)
Ich bin überzeugt, wenn ein Mann wie Haug im Besitze
des antiken „Sehens" des Inhaltes klassischer
Literatur, anstatt des modernen Lesens, ein anderes
Werk, etwa die „Odyssee" oder eine der „Upanishads", als
Brille benutzt hätte, er hätte auch durch dieses Glas seine
Bilder geschaut, nur daß diese dann etwas anders gefärbt
erschienen wären. Er gleicht hierin der Kartenlegerin, die
auch unter den Rösselsprüngen ihrer deutenden Finger aus
den Karten etwas erschaut, wozu ihr der Kaffeesatz gleiche
Dienste leisten würde. Interessant ist, wie bei ihm der alte
Streit betreffs des Jahvisten und des Elohisten neue Form
annimmt. Bekanntlich war es ein französischer Arzt, Dr.
Astruc, der 1753 zuerst die Vermutung aufstellte, Moses
müsse bei der Niederschrift der Genesis zwei ältere, schon
vorhandene Original werke verwendet haben, nach denen er
die Bruchstücke des einen durch den Gebrauch der Bezeichnung
„Jahve* von denen des anderen durch die
Bezeichnung „ Elohim * unterschied; beide Namen werden
in unserer Bibel mit „Herr* und „Gott" übersetzt. Später
erst wurde man darauf aufmerksam, daß direkt einzelne
Quellen benannt wurden, so 4. Mos. 21, 14 das Buch „von
den Streiten des Herrn* und 4. Mos. 27 das „Sprüchwort
", sowie Jos. 10, 13 das „Buch der Frommen"; und
man schloß aus der Ähnlichkeit der Sprache des Penta-
teuchs mit der anderer auf uns gekommener hebräischer
Schriften, von denen die ältesten ins achte Jahrhundert
v. Chr. zurückdatieren, während Moses sieben Jahrhunderte
früher gelebt haben muß, im Verein mit der Notiz
2. Könige 22, 8, daß nicht Moses der Verfasser der ihm
zugeschriebenen Bücher sein könne, sondern daß diese später
aus älteren vorhandenen Schriften mehr als zweier, im
Verein mit im Munde des Volkes aufbewahrten Überlieferungen
zusammengestellt und natürlich im Interesse
der Priesterschaft tendenziös redigiert worden seien. Es
stellte sich leicht fest, daß die geschichtlichen Daten der
fünf Bücher Mosis und des Josua, die man, als zusammengehörig
, auch wohl als Hexateuch bezeichnet, unmöglich von
Zeitgenossen und Augenzeugen niedergeschrieben sein
können, sondern erst als Legenden und Sagen im Munde
des Volkes die mannigfachsten Umgestaltungen erfahren
haben; daher die vielfach sich widersprechenden Angaben,
daher die Schilderung der Entwickelung eines kleinen
Stammes in verhältnismäßig kurzer Zeit zu Millionen von
Nachkommen. Aus dieser Entstehungsart schreiben sieh
auch die vielfach vorkommenden Versuche der Deutung
von Orts- und Familiennamen her, deren Ursprung un-
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