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116 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1913.)
Der Traum als Wirklichkeit.
Dem Leben und den Gebilden der Traumwelt haben
Sinne genommen ~ - eine Beziehung zur realen Welt zugestanden
; sie haben in ihren Ankündigungen Ratschläge
gesehen und darnach ihre Handlungen eingerichtet. Die
moderne, „voraussetzungslose Wissenschaft", die nicht mehr
so hochmütig ist, alles zu leugnen, was sie nicht erklären
kann, hat sich allmählich dem Standpunkt genähert, daß
die Erforschung und Beobachtung der Träume wertvolle
Erkenntnisse liefern können. So wissen die Ärzte längst,
daß sich verschiedene Krankheiten, lange bevor sie anders
diagnostiziert werden können, durch bestimmte Träume
untrüglich ankündigen.
Im Yolke ist die Auffassung geblieben, wie sie früher
war. Unser segensreiches kleines Lotto hätte sieher einen
enormen Ausfall der Einnahmen zu verzeichnen, würde die
Umsetzung der Träume in „gute Numero" aufhören. Bei
den alten Griechen war der Gott der Träume bekanntlich
(Hermes) Merkur; zu ihm betete, wrer einen glücklichen
Traum haben wollte. Koch heute verweisen die Mystiker mit
Genugtuung auf die wunderbaren Heilungen, welche man
dem Schlaf in den Tempeln des Apollo und des
Äskulap zu Athen und Epidaurus in Argolis im 4. Jahrhundert
vor Christus verdankte. Wie heute in christlichen
Ländern das Volk zu Zeiteu der Not an heilige Orte wallfahrtet
, so pflegte man bei den Griechen im Tempel der
Isis, des Äskulap und des Serapis um Mitleid und
Gerechtigkeit zu flehen, wenn ein schwerer Traum das Gemüt
erschreckt oder gewarnt hatte. Die Dichter der
Alten pflegten den Traum fast stets zu personifizieren; er
war ein Gott, bei Homer der böse Genius. Die Träume
sind da in der Finsternis der Unterwelt hausende Kinder der
Nacht, bei H e s i o d die Söhne der Erde, und schwarzbeschwingte
Geister bei Euripides, die nächtlichen Gäste
der Seele oder die Kinder des Traunlgottes bei Ovid.
Aber nicht nur die Kunst und der Volksglaube, nicht allein
die Priester und Religionsstifter, sondern auch die Philosophie
stand im Dienste der Mystik und half im
Mysterium des Unerläßlichen und Ubermenschlichen die
physiologische Tatsache des Träumens zu verhüllen. Der
Wahrsager Artemidorus [der wahrscheinlich zu Anfang
zu Daidis in Lydien geboren wurde, definiert in seinem
ursprünglich nur die Mystiker
das Wort im weitesten
des 2. Jahrhunderts unserer
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