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150 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 3. Heft. (März 1913.)
friedigende Antwort habe ich nicht gefunden. Ich gebe
gern zu, daß der Grund hierfür nur in meiner skeptischen
Natur lag, daß mancher andere in jenen mir nichts beweisenden
Vorgängen Beweise gefunden haben würde und daß
ich daher selbst unverdrossen weiter suche, wie ich bisher
gesucht habe.*)
Vor einigen Jahren lebte ich in Hamburg und hatte
dort Gelegenheit, den eigenartigen Zwiespalt, das heißt doch
wohl den nur scheinbaren Widerspruch im Charakter der
Hamburger Bevölkerung kennen zu lernen: nirgends in
Deutschland, kaum in der ganzen Kulturwelt eine schärfere,
selbstsüchtigere Betonung des lieben Ichs, nirgends größere
Egoisten mit klarer Verstandestätigkeit unter Ablehnung
jeglicher „Gefühlsduselei" — man beachte nur das Straßenleben
, dieses rücksichtslose Vorwärtsdrängen und Beiseitestoßen
— und nirgends mehr Wohltätigkeit, Opfermut,
Gutmütigkeit, Betätigung in chaiitativer Hinsicht, als in
Hamburg! Wohlverstanden: Wohltätigkeit — keine Wohlfahrt
; man opfert gerne Tausende, — aber den Menschen:
zehn Schritt vom Leibe! Und nirgends mehr Sinn und
Interesse für das „Naehtgebiet" der Natur! Hamburger
Tagesblätter wimmeln von Anzeigen von Chiromanten,
Traumdeuterinnen, Astrologen und anderen, und mir war
es seinerzeit ein großes Vergnügen, die Produktionen jener
Anzeigenden zu besuchen.
So hatte mich meine Frau eines Sonntags wieder auf
das Inserat einer Handlesekünstlerin aufmerksam gemacht,
und wir gingen auch hin. Frau Seh., eine stark beleibte
ältere Frau, öffnete uns selbst und ließ uns in ihr Zimmer.
Während sie meiner Gattin aus den Handlinien verschiedene
belanglose Phrasen erzählte, beobachtete ich die wunderbar
schönen Augen der schon älteren Frau. Ihre besondere
Deutungskunst interessierte mich erst, als sie auch mir
aus der Hand wahrsagen wollte. Ich bemerkte, daß sie das
Ende der Lebenslinie dort suchte, wo nach den gewöhnlichen
Hegeln der Chiromantie ihr Anfang liegt, und als sie
noch mit einem Vergrößerungsglas verschiedene Sterne zu
finden schien, wo nur Kreuzungen bekannter Linien waren,
machte ich sie darauf aufmerksam, worauf sie sagte: „Ach,
von der ganzen Theorie halte ich nichts, ich sage nur, was
— was--" „Nun, was die Freunde Ihnen eingeben,
nicht wahr?" — „Ja, ja! Kennen Sie auch die geistigen
Freunde?" — „Ach ja, habe schon oft von ihnen gehört,
habe sie aber nicht gesehen!" — „Und ich sehe sie immer!
*) Ganz meine eigene Erfahrung und Stimmung! — Mai er
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