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162 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 3. Heft. (März 1913.)
(580.) „Einst sah ich auf der Straße ein stattliches Mädchen
dahinschreiten, dessen Gestalt und gesamtes Wesen solchen Eindruck
machte, daß ich von dem Augenblicke an sie hochverehrte.
Ich sah sie aber stets nur in einer gewissen Entfernung; da ich
Weib und Kind besaß, hätte es ganz und gar keinen Zweck gehabt
, mich zu nähern; ich wollte sie nur so oft wie möglich
sehen. Sie hatte keine Ahnung von meiner stillen Verehrung.
Da sie nur einige Häuser weit schräg gegenüber wohnte, fand
mein Wünschen reichlich Erfüllung. Dann mußte ich Wien verlassen
, um meine Sommerferien auf dem Lande zu verbringen.
Da träumte mir anfangs August, ich wäre in meiner Wohnung
in der Blindengasse. Ich sah von meinem Fenster in ihr
Zimmer (was in Wirklichkeit nicht der Fall war;. Ich beobachtete,
wie sie nach Hause gekommen, sich entkleidete. Jetzt hob sie
das Haupt, wandte mir das Antlitz zu und sah mit einem Blick
herüber, den ich noch beute fühle, und der mich eindringlicher
als Worte, aber ernst traurig, einlud, zu ihr zu kommen. Ich
konnte mich aber nicht dazu entschließen, trotz des Sehnens, das
mich jedoch erfüllte. Da nahm sie ein Tuch um die schönen
Schultern, stieg die Treppe herab und ging an meinem Fenster
unten vorbei, kehrte wieder um, immer denselben Blick heraufgerichtet
..... Dann verschwand sie.
Nach Wien zurückgekehrt, sah ich das geliebte Fenster leer.
Sie hatte, wie ich später erfuhr, in der Zeit des oben berichteten
Traumes die alte Wohnung verlassen/
Der nächste telepathische Traum wurde mir von einer
geistig sehr hochstehenden Persönlichkeit berichtet. Es
handelt sich am das telepathische Gesicht vom Selbstmord
eines Freundes in Italien. Mehrere Unterschriften mir bekannter
, vertrauenswürdiger Personen bestätigen, daß ihnen
Herr X. diesen Traum erzählte, ehe die Nachricht aus
Italien eingetroffen war —
Frau P. E. erzählte mir: „Ich träumte einmaJ, meine
Mutter stehe vor meinem Bette und winke mir, aufzustehen.
„Wenn du mich noch sehen willst, mußt du gleich zu mir
kommen/ sprach sie und verschwand. Ich wachte mit
Schrecken auf und weckte meinen Manu. „Unsinn!* sagte
er und schlief weiter. Ich konnte aber vor Erregung
keinen Schlaf finden. Am nächsten Morgen meldete mir
ein Telegramm ihren Tod. —
Eine Ausnahme in meinem Material bildet der Bericht
des Dr. F. Z., eines zuverlässigen Beobachters:
„Ich befand mich auf einer längeren Reise in Rußland.
Ich lernte daselbst eine Dame kennen, in die ich mich
sofort verliebte. Sie war nicht sehr spröde und brach meine
Abstinenz, die schon zwei Monate gedauert hatte. Ich füge
hinzu, daß ich aus Liebe geheiratet habe, meine Frau noch
immer liebe und ihr nie die Treue gebrochen habe. Nach
einigen Tagen erhalte ich einen Brief von meiner Frau.
Sie müsse mir einen schrecklichen Traum mitteilen. Ich
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