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206 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 4. Heft. (April 1913.)
Bezüglich der Erklärung aller dieser merkwürdigen
Vorkommnisse möchte ich mir noch die folgenden Bemerkungen
erlauben. Wenn es sich nur um die Maltätigkeit
handeln würde, so würde man vielleicht mit der amnestischen
Erklärungstheorie auskommen; ich sage absichtlich
„vielleicht*, denn wenn wir uns auf den Standpunkt stellen,
daß hier eine im Unterbewußtsein schlummernde Gabe des
künstlerischen Schaffens vorliegt, die sich erst bei Ausschaltung
des Wachbewußtseins betätigen kann, so tauchen
jetzt allerlei Fragen auf, die einem gewissenhaften und
vorurteilsfreien Forscher zu denken geben. Woher kommen
die seltsamen orientalischen Gebilde, die doch dem Vorstellungsleben
der Dame, die keine Kunststudien getrieben
hat und nie im Orient war, fern liegen ? Welche Bewandtnis
hat es mit der Unterzeichnung der Arbeiten mit einem
männlichen Namen? Die Wissenschaft lehrt hier, daß das
Unterbewußtsein bisweilen den Charakter einer selbständigen
Persönlichkeit annimmt; ob aber die vielen Mitteilungen,
die das „personifizierte Unterbewußtsein* über seine persönlichen
Verhältnisse zu Lebzeiten, über den Ubergang in
die jenseitige Welt und die dortigen Zustände, über den
Zweck und die Bedeutung seiner Tätigkeit usw. gemacht
hat, nur der Phantasie des Unterbewußtseins entsprungen
sein sollen, ist doch nicht ohue weiteres zu behaupten.
Auch gibt die eigenartige Armhaltung zu denken, die ohne
den Willen der Dame sich einstellt, und von der sie überhaupt
nichts wissen würde, wenn es ihr ihre Angehörigen
nicht gesagt hätten. Wegen dieser Armhaltung ist die
Mitteilung erfolgt, daß gerade hierdurch der Wissenschaft
der Beweis erbracht werden soll, daß ein unbewußter Zustand
vorliegt; denn die Dame ist von schwacher Konstitution
und hat diese Armhaltung schon 8 Stunden ununterbrochen
beibehalten, wobei noch zu berücksichtigen
ist, daß nach dem Erwachen der Arm keineswegs ermüdet
oder erschlafft, sondern vollständig gebrauchsfähig ist. Die
Unterbewußtseinstheorie ist zwar sehr bequem, aber doch
nach meiner Uberzeugung nicht ausreichend; man muß
doch auch die vielen von mir berichteten andern Fähig-
keiten berücksichtigen und man kann doch unmöglich annehmen
, daß unser Unterbewußtsein allwissend ist. Nur
wer die spiritistische Hypothese grundsätzlich verwirft,
muß sich dann mit Verlegenheitstheorien wie „Zufall",
„Gedankenübertragung" usw. behelfen und er muß dem
Unterbewußtsein geradezu unbegrenzte Fähigkeiten zusprechen
. So lange aber das Seelenproblem noch nicht
gelöst ist, und das ist eben keineswegs der Fall, ist die
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