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234 Psychische Studien. XXXX. Jahrg. 4. Heft. (April 1913.)
des Mensehen geht immer von neuem ein in einen neuen
Leib, der Mensch wird nicht einmal, sondern vielmal geboren
Das unsterbliche Ich scheidet beim Tod bereichert
aus jedem Leben, um später in immer vollkommenerer
Weise bei jeder neuen Geburt mitzuarbeiten an der Gestaltung
des Leibes und des Gehirns, das ihm als Kleid
und Werkzeug gegeben wird. Damit werden die Tatsachen
der Vererbung nicht geleugnet. Das Ich findet zwar in
den von den Eltern mitgegebenen Stoffen die Bausteine vor,
aus denen es sich seinen Leib selbst aufbauen hilft, aber
es gibt in jedem Menschen ein Individuelles, Eigenes, das
durch Vererbung nicht entsteht und erklärt werden kann.
So ist dieses eine Leben nur eine Frucht dessen, was der
Mensch in früheren Zeiten getan und aus sich selbst gemacht
hat, und eine Vorbereitung auf künftige Daseiris-
formen. Die Geistesforschung macht es nun jedem Menschen
möglich, selbst zu erfahren, daß es eine vom Körper unabhängige
Seele gibt. Das tägliche Leben zeigt uns eine
Erscheinung, die wir nur deswegen einer tieferen Beachtung
nicht für wert halten, weil sie eben alltäglich ist. Es ist
dies der Schlaf. Wie kommt es, daß der Mensch im
Schlaf seines Körpers und seiner Sinne nicht mehr mächtig
ist, ja daß im Tiefschlaf das Bewußtsein selbst aufhört,
um am andern Morgen gewissermaßen aus dem Nichts
ganz so neu geschaffen zu werden, wie es am Abend vorher
war? Die Seele, jenes vom Körper unabhängige eigentliche
Selbst des Menschen, verliert ihre Verbindung mit dem
materiellen Leib, ihre Macht über ihn und die Fähigkeit,
sich der Sinne zu bedienen. Dies kann allmählich und
teilweise geschehen, wodurch die Erscheinungen des Halbschlafs
erklärt werden. Im Traumzustand hat die Seele
noch Verbindung mit dem Ätherleib, einem feinstofflichen
zweiten Leib, der mit dem grobraateriellen Leib jedes
Menschen verbunden ist und ihn durchdringt. Im Tiefschlaf
schließlich, wenn das Bewußtsein aufhört, trennt sich
die Seele auch von dem Ätherleib, freilich nicht räumlich,
sondern nur dynamisch. In diesem Zustand ist die Seele
ihrer selbst nicht bewußt, sie hat bei gewöhnlichen Menschen
die Fähigkeit nicht, ohne die Hilfe des Leibs zum Selbstbewußtsein
zu kommen. Das Gehirn ist gleichsam der
Spiegel, den die Seele nötig hat, um sich selbst zu betrachten
und so bewußt zu werden. Dem Geistesforscher
aber gelingt es, die Seele auch ohne diesen Spiegel zum
Selbstbewußtsein zu bringen und so deren Existenz als
eine vom Körper unabhängige zu beweisen. Das Mittel
dazu ist die mystische Beschauung. Wenn es uns gelingt,
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