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Kaindl: Die menschliche Psyche ein Doppel-Wesen. 257
Wenn man Beschränkung, Bewußtsein und Gedächtnis
als die wesentlichsten Erfordernisse von Selbstheit anerkennt,
so würde sich in Anbetracht der Tatsache, daß sie doppelt
vorhanden sind, wohl die Notwendigkeit ergeben, außer
dem supraliminalen Selbst noch ein zweites Selbst anzunehmen
, das man passend als subliminales bezeichnen kann.
Jedenfalls ist diese Benennung denenigen Daumens vorzu-
ziehen, weil der von ihm gewählte Ausdruck «mystisches
Ich* den Anschein erweckt, als wäre es der Ursprung der
mystischen (supernormalen) Erscheinung überhaupt.
Die Phänomene der sekundären Persönlichkeit würden
einer solchen Annahme nicht nur keinen Abbruch tun,
sondern sie würden, wie die dramatische Spaltung des Ich
im Traume, noch dazu beitragen, sie zu stützen, da sie wie
diese den Erklärungsgrund für seine Duplizität liefern.
Selbstverständlich dürfen sekundäre Persönlichkeiten,
wie z. B. das „Männchen" des Knaben Richard (s. S. 9),
nicht mit dem sublingualen Selbst verwechselt werden,
sondern man hat sich in allen derartigen Fällen stets zu
vergegenwärtigen, daß die supernormalen Erscheinungen,
die sie darbieten, nur durch ein abnormes Verhältnis
zwischen Geist und psyeho-physischem Medium bedingt sind
und daß sich infolgedessen die verschiedenartigsten und
heterogensten Einflüsse geltend machen und ein wahrem
Wirrsal von Phänomenen veranlassen können. —
Die Tatsachen, die Walter Leaf zu der Annahme bewogen
, daß Erinnerungskomplexe, welche sich in einem
dem Verwesungsprozesse des Körpers analogen Zustande
befinden, den Tod der Persönlichkeit überdauern, fänden
nach der psycho-physischen Hypothese einfach dadurch
ihre Erklärung, daß geistige Einflüsse, welche entweder von
odisierten Gegenständen oder, infolge eines zwischen ihnen
und der Odquelle hergestellten Rapportes von dieser selbst
ausgehen, vom Empfänger exoneural perzipiert, geistig
rekonstruiert und objektiviert werden.
Der Fehler der Generalisierung, dessen sich Myers
schuldig gemacht haben soll, indem er das subliminale Bewußtsein
zu einem Allgemeingute der Menschen machte,
scheint eher von Hudson begangen worden zu sein, indem
er die £>uggestibilität zu einer wesentlichen Eigenschaft
des subjektiven Geistes erhob, während sie doch nur eine
solche des psycho-physischen Mediums ist, von deren Folgen
der subjektive oder subliminale Geist in abnormen Ausnahmefällen
nur indirekt betroffen wird, nämlich in solchen,
wo sich das psycho-physische Medium außerhalb seiner
normalen organischen Wirkungssphäre befindet. Wenn ge-
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