http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0267
Stekel: Der tiefe Brunnen.
268
„Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit
Der ungestörten Einsamkeit!
Denn seine Herde treibt der laute Tag
In unsern grünenden Gedankenhag,
Die schönsten Blüten werden abgefressen,
Zertreten oft im Keime und vergessen.
Trägt abei uns der Schlaf mit weicher Hand
Ins Zauberboot, das heimlich stötit vom Strand,
Und lenkt das Boot im weiten Ozean
Der Traum herum, ein trunkner Steuermann,
So sind wir nicht allein, denn bald gesellen
Die Launen uns der unbeherrschten Weilen
Mit Menschen mancherlei, vielleicht mit solchen,
Die feindlich unser hmres tief verletzt,
Bei deren Anblick sich das Herz entsetzt.
Getroffen von des Hasses kalten Dolchen,
An denen gerne wir vorüberdenken,
Um tiefer nicht den Dolch ins Herz zu senken. —
Dann wieder bringen uns die Wellenfluchten,
Wohin wir wachend nimmermehr gelangen,
In der Vergangenheit geheimste Buchten,
Wo uns der Jugend Hoffnungen empfangen.
Was aber hilft's? Wir wachen auf--entschwunden
Ist all das Glück, es schmerzen alte Wunden.
Schlaflose Nacht, du bist allein die Zeit
Der ungestörten Einsamkeit."
Was bringen uns die Gelehrten, das die Dichter nicht
vorher geahnt und ausgesprochen haben ? Wie viele Jahre
war die Traumdeutung nur bei den Dichtern aufgehoben
und die Wissensehaft wollte von einer Kunst der Traumdeutung
nichts wissen, bis sie die gewaltige Arbeit Sigmund
Freud's von der Möglichkeit der Deutekunst
überzeugte, wenn sie sich die Uberzeugung durch Nachprüfung
erwerben wollte.
Der Traum ist eine nächtliche Reise ins Infantile, ins
Jugendland, sagt Freud. Und Lenau singt: „Dann bringen
uns die Wellenfluchten in der Vergangenheit geheimste
Buchten, wo uns der Jugend Hoffnungen empfangen"
Darum wollen wir einmal zu den Dichtern in die
Schule gehen. Was den Dichter und den Träumer ver-
biudet, das habe ich schon in „Dichtung und Neurose*
ausgeführt. Dieses Buch soll nicht eine Wiederholung von
bekannten*) Tatsachen sein. Wir haben eine ßeihe wichtiger
Probleme zu lösen. Wir wollen versuchen, vom Verständnis
des Traumes zum Verständnis des Dichters durchzudringen
. Ich halte es mit Jean Paul, der der
Meinung ist: „Wahrlich, mancher Kopf würde uns mehr
*) Stekel: „Dichtung und Neurose/ (Bausteine zur
Psychologie des Künstlers.) Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens
, Nr. LXV. Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden 1909.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0267