http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0268
264 Psychische Ötudieii. XXXX. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1913.)
mit seinen Träumen, als mit seinem Denken belehren,
mancher Dichter mehr mit seinen wirklichen Träumen, als
mit seinen gedichteten ergötzen, sowie der seichteste Kopf,
sobald er in eine Irrenanstalt gebracht ist, eine Prophetenschule
für den Weltweisen sein kann.*
Doch bevor ich auf die Träume der Dichter eingehe,
muß ich einige Worte über das Wesen des Traumes
sprechen. Ich müßte die ganze Traumdeutekunst einleitend
aufrollen und vorführen. Ich vermeide diesen Weg. Ich
halte ihn für den Anfänger für zu gefährlich, für den Vorgeschrittenen
zu langweilig. Ich will einen anderen Weg
wählen.
Zur Erleichterung der Aufgabe, uns über das Wesen
des Traumes zu verständigen, wollen wir uns mit einem
Traurae beschäftigen, den eine 22 jährige Dame geträumt
hat. Sie steht wegen „nervöser Herzbeschwerden*4 in
meiner Behandlung. Sie leidet an sogenannten Herzkrämpfen
, die sie unvermutet befallen, bie glaubt dann,
sie müsse sofort sterben und verlangt stürmisch nach einem
Arzte. Infolge dieser Anfälle traut sie sich nicht allein auf
die Gasse und verliert allen Lebensmut. Sie wurde mir
nach allerlei vergeblichen Versuchen, sie durch die üblichen
Behandlungsmethoden zu heilen, von ihrem Hausarzte
überwiesen. Am vierten Tage der Behandlung bringt sie
mir den nachfolgenden Traum, der mir eine volle Einsicht
in die komplizierte, bisher unzugängliche Genese ihrer
Krankheit brachte.
Der Traum lautet also wörtlich, wie ihn mir die
Patientin erzählte:
„Der Kaiser kam nach langer Abwesenheit, unsere Stadt
wieder zu besuchen. Die ganze Stadt war festlich geschmückt.
Fahnen wallten von den fläusern und ßalkonen. Aber alies war
schwarz ntatt rot ausgeschmückt. Ich sprach zu den Leuten:
, Warum diese traurige schwarze Fa^be, als wäre der Kaiser gestorben
? Ihr solltet doch jauchzen und jubeln, daß er nach
langen, langen Jubren Ewh wieder einmal besucht?'4 - Bie
hörten mich nicht. Es herrschte eine große Verwiirung. Die
Leute gestikulierten und sprachen und riefen durcheinander, so
daß sie den Kaiser übersahen. Ich rief nun warnend: „Aber
Leute, sehet Ihr nicht, daß der Kaiser unten steht ?* Der Kaiser
jedoch. d<*r ein lila Gewand anhatte, sah sicR forschend und verwundert
um und verschwand in dem Momente, als bie ihm mit
Blumen entgegenlaufen wollten. Langsam entrückte er unseren
Blicken in der Richtung des Hafens. Einige Stimmen riefen:
„Wie rüstig der alte Herr doch ist und ist doch schon so alt!4
Um er der Menge entstand eine große Bestürzung. Was wird
der Kaiser voa uns denken, da wir ihn so nüchtern, so kah und
so herzlos empfangen haben? Keine Begrüßung, keine Böllerschüsse
, kein Jloch, keine Blumen ! Und eine mahnende Stimme
rief über alle Menschen : „Wer möchte ihm noch einen letzten
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0268