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Stekel: Der tiefe Brunnen.
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Gruß nachrufen?* Ich drängte mich vor: „Ich will es tun!"
Aus den Blumen riß ich in aller Eile einen prächtigen Strauß
mit roten Bosen und eilte in atemloser Hast zum Hafen hinunter
. In dem Augenblicke sah ich im Hafen drei große Barken
und zwei Kriegsschiffe davonfahren. Sie entführten den lieben
Kaiser in weite Fernen .... Es war für mich ein entsetzliches
Gefühl, den Kaiser entschwinden zu sehen, während ich so gerne
mit ihm sprechen und den Fehler gutmachen wollte. Schon bin
ich am Strande. Ich erkletterte einen steilen, senkrecht ins
Meer vor?*pringenden Felsen, rief aus aller Kraft: „Heil unserm
Kaiser! .. . / und warf die roten Rosen in das brandende Meer.
Dreimal rief ich so vergeblich über das Meer hin und streckte
die Arme in Sehnsucht und Vergessenheit weit vor, als könnte
ich ihn fassen und zurückholen. Ich wurde heiser, so laut schrie
ich, und konnte das dritte Mal fast keinen Laut mehr hervor-
bringer. Dreimal ertönte mein Ruf, aber von den Wegen kam
keine Antwort. Es wurde finster und das Meer wallte schwarz
und gähnend zu meinen Füßen. Ich eilte nun bange zurück in
die Stadt. Die Leute sagten: „Vielleicht hat der Kaiser wenigstens
die eine Stimme gehört/ Vielleicht hat er doch einen
der drei Rufe vernommen. Ich erwachte mit wehem Halse und
einem schweren Atem. Mein Kissen war naß von Tränen
Man könnte nun glauben, diesen Traum habe eine
Dichterin geträumt. Aber im Traume werden
alle Mensehen zu Dichtern. Diese Frau ist eine
einfache nüchterne Person, der Poesie und literarisches
Interesse ziemlich ferne liegen. Doch was hat der Traum
zu bedeuten ? Was soll der Besuch des Kaisers in ihrer
Heimat, von der sie jetzt viele Meilen, Berge und Täler
trennen ?
Man wäre verleitet, anzunehmen, die Dame wäre eine
große Patriotin und der Wunsch, den Kaiser in Wien zu
sehen, habe ihr den Traum eingegeben. Doch diese Annahme
würde uns nicht die verschiedenen interessanten
Details erklären. Vor einem Jahrzehnt noch wären wir
einem solchen Traume fassungslos gegenübergestanden und
hätten ihn als artiges Spiel einer erhitzten Phantasie bezeichnet
. Heute wissen wir, der Traum muß einen tiefen
Sinn haben. „Man tfäumt gar nicht, oder interessant" —
sagt Nietzsche.
Der Sinn dieses Traumes ist mit einem kleinen
Schlüssel aufzulösen. Wir müssen nur die Grundbegriffe
der Symbolik kennen und der Traum bekommt sein wahres
Gesicht. In der symbolischen Sprache des Traumes bedeutet
der Kaiser fast regelmäßig den Yater. Nun
hören wir von der Kranken, daß ihr Vater vor sieben
Jahren gestorben ist. Der Traum erfüllt einen leicht begreifliehen
Wunsch des zärtlichen Kindes, das am Vater
mit abgöi tisch er Liebe hing. Der Vater kommt wieder
und sie hat Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Jetzt ver-
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