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276 Psychische Studien. XXXX. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1913.)
Künstler der Christus getreten, der nichts Anderes ist wie
eben andere auch: wohl ausgezeichnet durch seinen Idealismus
und vielleicht auch seine Schwärmerei, aber im übrigen ein
Tropfen nur in dem gewaltigen Lebensmeer, — nicht mehr
jenes Riff, an das sich seit der Entstehung des Christentums
so viele geklammert hatten. Allerdings kann man deshalb
noch nicht sagen, daß auch in dem religiösen Leben unserer
Tage diese Auffassung die einzig herrschende wäre. Im
Gegenteil: alle Auffassungen begegnen uns hier, die jemals
das Christusproblem zu begreifen versuchten. Wir wollen
sie gleich hier vorwegnehmen, wenn wir uns im Folgenden
etwas näher mit diesem Problem beschäftigen wollen, das
ja auch dem Okkultismus so nahe steht. Von altersher steht,
besonders durch die Hierarchie der katholischen Kirche gestützt
, noch fest, wenn auch nicht mehr so ganz fest wie
früher, die Auffassung von Jesus als dem Gottmenschen
auf Erden, der für uns durch die Überlieferung seines Lebens
und seiner Taten kenntlich ist; dieser entgegengesetzt die
Anschauung der modernen kritischen Theologie, daß Jesus
nur ein religiöser Genius im Gewände seiner Zeit gewesen
sei. Daneben noch zwei andere Erklärungsversuche, um
nur die wichtigsten hervorzuheben: die Meinung, daß Jesus
nur ein gewöhnlicher Mensch wie alle andern gewesen sei,
der zwar eine gewisse Begabung gehabt habe, aber seine
Erfolge in der Weltgeschichte nur dem Netz von Täuschungen
zu verdanken habe, in welche die Berichte seines
Lebens später geraten seien (die moderne: D. Fr. Strauß,
Feuerbach, Renan u. a.); dazu noch eine vierte Auffassung,
die besonders der neuere Okkultismus aufgebracht hat:
Jesus der große „Meister*, dessen Lehre man nur verstehen
könne, wenn man sie symbolisch auffasse fder mystische
Christus der Theosophie).
Tatsächlich hat also auch der Okkultismus versucht,
dieses Problem in seiner Weise zu lösen, obgleich er dabei
bis heute wenig Erfolg gehabt hat. Denn es kommen dabei
nicht nur viele Fragen in Betracht, die ganz in das Gebiet
des Okkultismus fallen (Wunderglaube, Auferstehungsglaube
Jenseitsvorstellungen osw.), sondern das ganze Problem ist,
so seltsam das auch klingen mag, ein Problem des Okkultismus
schlechthin, insofern auch das Problem der Menschheit
als solches damit verknüpft ist, wie wir am Ende unserer
Betrachtung sehen werden. Dabei dürfen wir es freilich
nicht auf Grund vorgefaßter Meinungen zu lösen suchen,
wie es oft von Seiten des Okkultismus geschieht, sondern
wir müssen versuchen, da es uns im Rahmen der Geschichte
gestellt ist, auch in diesem Rahmen zunächst eine Lösung
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