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Hänig: Das Christusproblem des Okkultismus
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dafür zu finden d. h. nach den Erfahrungen, wie sie uns die
moderne Geschichtswissenschaft bietet, soweit nicht andere
Wissensgebiete, nicht zuletzt auch der Okkultismus, dabei
im Betracht kommen.
Wie ist jene Veränderung möglich gewesen ? Man wird
ihren Grund heute nicht mehr bloß in den kritischen Arbeiten
der „Tübinger Schule* suchen, die, von Hegel ausgehend
, den festen Grund zu jener historischen Kritik des
Lebens Jesu gelegt hat und von der wir nur Strauß als
hervorragendste Erscheinung erwähnten; — wir werden den
Grund auch in den veränderten Bedingungen unserer Kultur
zu suchen haben, die in gewisser Hinsicht auch in der Um-
gestalturg der Universitäten zum Ausdruck gekommen ist.
Denn die früher so zurückgesetzte vierte Fakultät wuchs
hier im Laufe des 19. Jahrhunderts so, daß sie die übrigen
allmählich verdrängte oder wenigstens ganz von ihr abhängig
machte: so wurde die .Rechtswissenschaft auf die Grundlage
der Philosophie gestellt, die Medizin wurde auf den modernen
Naturwissenschaften aufgebaut, während die Theologie eine
andere Vorraussetzung erhielt: sie gründete sich fortan zum
großen Teile auf die Ergebnisse der Altertums- und Geschichtswissenschaft
, wie sie in der letzten Hälfte des vergangenen
Jahrhunderts entstanden. Besonders die klassische
Philologie, die ja von jener anderen Disziplin untrennbar
ist, hat hier beträchtlich eingewirkt und die Theologie vor
ganz neue Erkenntnisse gestellt: die Entdeckung des
Hellenismus, wie sie seit Droysen geschah, und seiner Beziehungen
zum Christentum und Judentum (s. darüber P.
Wendland: „Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen
zu Judentum und Christentum") hat uns den
Boden gezeigt, auf dem diese ganze Bewegung, die wir
Christentum nennen, entstanden ist; sie hat uns die vielen
Fäden gezeigt, welche die neue Bewegung vorwärts und rückwärts
verknüpften, so daß sie erst durch diese Welt hindurchgehen
mußte, ehe sie ihre große Mission erfüllen konnte.
Dazu aber kam noch Anderes: die moderne Sagen- und
Mythenforschung, besonders die moderne Völkerpsychologie,
haben manches, was früh er für unumstößlicheWahrheit galt, als
Täuschung erwiesen; sie haben im besonderen gezeigt, daß sich
überall in der Welt, auch da, wo keine Berührungen zwischen
den Völkern vorhanden sind, gleiche Vorstellungen entwickeln
, besonders auf religiösem Gebiete, ohne daß wir
deshalb an historische Ereignisse zu denken brauchen, auf
deren Grundlage sich jene Anschauungen entwickelt hätten.
Die Frage nach der Lösung des Christusproblems ist
also heute viel schwieriger geworden als etwa zur Zeit des
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