http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0326
322 Psychische Studien. XL. Jahrg. «. Heft. Juni im.)
Ein Fall von Gedankenübertragung
im Trauin»
Von Dr. J. Clericus.
Einen sehr beachtenswerten Fall von Gedankenübertragung
im Traum berichtete mir unlängst einer meiner
Schüler, ein Kandidat der Theologie. Das Vorkommnis i.**t >o
gut bezeugt und steht so fest, daß es an Ort und Stelle auf
jene Kreise großen Eindruck machte, die, an einer zum Teil
veralteten scholastisch-aristotelischen Psychologie zähe festhaltend
, das Bestehen eines Unterbewußtseins und der
Telepathie hartnäckig leugneten. Der betreffende Kandidat
hatte den Direktor seines Seminars um Weihnachtsurlaub
gebeten, aber vergeblich auf die Bewilligung gewartet, so
daß er seinen Eltern schrieb, sie möchten seine Heimkunft
nicht erwarten, er komme nicht. Nach einigen Tagen ward
ihm aber gegen sein Erwarten der Urlaub doch noch bewilligt
. Der Kandidat war nicht wenig überrascht, als er
nach Hause gekommen, erfuhr, daß eine seiner Familie befreundete
Dame seine Ankunft zufolge eines ihr gewordenen
Wahrtrr.umes bereits angekündigt habe. Auf
Ersuchen des jungen Theologen hat die Dame ihre Eindrücke
schriftlich in folgender Weise geschildert:
„Die Nacht vor Ihrem Eintreffen träumte mir, Sie
seien mit mehreren Herren versammelt. Hierbei erinnerte
sich der Herr Direktor, daß Sie um Urlaub nachgesucht
hatten. Er entschuldigte sich, er habe infolge vieler Arbeit
und Aufregung ganz darauf vergessen. Sie hatten <chon
beschlossen, nicht mehr nachzusuchen. Herr Direktor gewährte
Ihnen vier Tage Urlaul), welchen Sie auch sofort
antraten. Im Traume war ich selbst anwesend. Herr
Direktor war ein mittelgroßer, schwarzer Herr. Am Sonntag
vor Weihnachten hatte ich durch Ihre Frau Mutter
erfahren, daß Sie wohl nachgesucht, aber keinen Urlaub
bekommen hatten!14 —
Das Merkwürdigste ist, daß alle von der Schreiberiii
bemerkten Einzelheiten genau zutreffen. Der Kandidat
befand sich auf dem Korridor im Gespräch mit einigen
Mitalumnen, als sich ihm der Direktor näfierte unter den
oben angegebenen Worten. Auch die Schilderung >eine*
Äußeren stimmt vollkommen. Wir brauchen zur Erklärung
dieses Faktums nicht anzunehmen, daß ein wirkliches Fernsehen
stattgefunden vermittelst des sog. transzendentalen
Subjekts (nach du Frei) oder daß die Psyche der Schlafenden
ihren Zusammenhang mit dem Körper gelockert und
sich räumlich hätte nach F. versetzen können, sondern die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1913/0326