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Stekel: Der tiefe Brunnen.
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male im Tage. Sie hatte — so glaubte sie — den ersten
Mann gänzlich vergessen. Und doch! Schon ihre Neurose
hätte die Umgebung belehren können, daß sie unglücklich
war. Glückliche Menschen werden nicht
neurotisch. Sie litt an heftigen Herzkrämpfen, in
denen sie fürchtete, zu sterben. Sie glaubte, der tote Vater
und der zürnende Gott werde sie durch einen Herzschlag
bestrafen und diese Strafe wäre für sie die Erlösung aus
den schwersten Konflikten geworden. Jedesmal, wenn die
unbewußte Erinnerung an den „toten Mann* in ihr erwachte
, begann das arme kleine Herz da drinnen zu
klopfen und sprach von Liebe und vom ewigen Verlust.
Die masochistische Sklavennatur in ihr war stärker als der
Stolz des sich aufrichtenden Weibes.
Wir sehen aber aus dieser Krankengeschichte, daß
die Kranke eine bestimmte Rolle spielte,
die ihr gar nicht gelegen war. Sie spielte die glückliche
Braut, sie spielte die Frau, die den Mann gänzlich
vergessen hatte. Sie spielte die Rolle, wie sie sie bei
den Dichtern gelesen hatte. Ihre ganze Neurose
war ein Gedicht. Sie spielte den sterbenden Vater,
das sterbende Weib, die Kameliendame und fürchtete, daß
das Leben sie statt in das Brautbett des Todes zum Traualtar
führen werde.
Ihre Herzkrämpfe hatten noch eine besondere Bedeutung
. Sie spielte die Szene des Wiedersehens
mit dem ersten Manne, von dem sie
«ich scheiden lassen wollte. Sie schrie
nach einem Arzte . . . . Aber es gab nur
einen Arzt, der sie hätte heilen können,
das war der teure grausame Tyrann, den
sie so heiß geliebt hatte und noch immer
liebte.
Die Anfälle waren Szenen des Widersehens, der Verzeihung
und Versöhnung. Und die Freude wäre so stark
gewesen, daß sie dies nicht hätte überleben können. Ihre
Familie war blind. Sie sah nicht, daß sie mit ihrem Herrn
(dem Kaiser!) noch verkehrte. Sie sah nicht, daß sie jede
Nacht sein Bild mit roten Rosen bekränzte ....
Ich habe diese Eigenschaft des Neurotikers in meinem
Aufsatze ,,Der Neurotiker als Schauspieler* („Zentralblatt
für Psychoanalyse,* Heft 1, Band I) eingehend geschildert.
Noch ausführlicher in „Schauspieler des Lebens* *) Dort
sagte ich: „Ich möchte eine besondere Eigenschaft der
• Aus Stekel: „Nervöse Leute/ (Paul Knepler, Wien.)
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