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38* Psychische Studien. XL. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1913.)
Der tiefe Brunnen,
Von Dr. W. Stekel (Wien).
(Schlull von Seite 323.)
Die Dichter wisse» alles, was die Gelehrten nach
Jahren mühsam ans Lieht des Tages bringen. Der Dichter
schöpft aus dem tiefsten Schachte seiner »Seele die Deutungen
. Dichten ist ja nur eine Fortsetzung des Träumens.
Abraham*) macht auf eine Stelle bei Ovid aufmerksam
:
„Nacht war's und es verschloß mir der Schlaf die ermüdeten Augen;
Höre das Traumgesieht, da.s mich in Schrecken gesetzt.
Bei eh an Eichen erhob ein Hain sich an sonnigem Hügel,
Und*in der Zweigen Laub bargen der Vögel sich viel.
Einen grünenden Platz enthielten rasige Matten,
Feucht von den Tropf*-n des sanft rauschenden Wassers gesprengt.
Unter der Bäume Laub entzog ich selost mich der Hitze;
Aber der Bäume Laub wehrte der Hitze doch nicht.
Da stand, blendend weiß, mir eine Kuh vor den Augen.
Kräuter suchend mit buntfarbigen Blumen gemischt:
Blendender war sie als Schnee, wann eben frisch er gefallen,
Welchen zu Wasser noch nicht hatte geschmolzen die Zeit;
Blendender war sie, als Milch, die weiG von noch rauschendem
Schaum ist
Und die d&s Mutterschaf, eben gemolken, verläßt.
Deren Begleiter war ein Stier, ihr glücklicher Gatte,
Und mit der Gattin vereint di tickt' er das saftige Gras.
Während er daliegt trag und wiederkäute die Kräuter
Und ihn zum zweiten Mal speist die gespeisete Kost,
Schien'.*, daß bewältigt vom Schlaf sein hörnertrage ades Haupt er
Hin auf die Erde, daß sie's stütz**te, habe gestreckt.
Hierher kam, aus der Luft auf leichten Schwingen sich senkend,
Eine Krähe, und ließ schwatzend sich nieder im Gras.
Und dreimal grub frech in die Brust der schneeigen Kuh sie
Ihren Schnabel, und weiß war von den Haaren der Mund.
Jene verließ den Ort und den Stier nach längerem Zaudern,
Doch auf der Brust der Kuh ward nun ein schwärzlicher Fleck.
Und als Stiere sie sah, in der Ferne Kräuter sich pflückend, —
Fern von ihr pflückten sich Stiere das üppige Kraut —,
Stürzte sie sich dorthin, sich mit jener Herde zu mischen,
Und besuchte die Trift, reicher mit Halmen geschmückt.
Sage mir nun, der du die Traumgeschichte der Nacht deut'st,
Was, steckt Wahres darin, dieses Gesicht mir besagt!"
So ich. Und es erhob der Träume Deuter sich also,
Während in seinem Geist jegliches Wort er erwog:
„Jene Hitze, die du durch das Laubdach wolltest
vermeiden,
Und die du übel vermiedst, war in der Liebe
bei dir;
Deine Geliebte die Kuh und die Farbe die der
Geliebten;
Du der Mann und ein Stier als der Genosse der
.--- Kuh.
*) „Zentralblatt für Psychoanalyse," II Band.
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