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Stekel: Der tiefe Brunnen.
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Goethe sagt sehr treffend: Gegen den Neid retten wir uns
am besten in der Liebe. Aber das geht nur bei Tage. In
der Nacht erwacht die Urnatur des Menschen. Die ursprünglichen
Triebe werden stärker als der ethische Uberbau
. — Und der arme Schreiber muß über Goethe oft gedacht
haben: Warum hat die Natur diesen einen Menschen
so verschwenderisch ausgestattet? Warum ist er ein so
bedeutender und ein so schöner und wohlgestalteter Mann?
Könnte er nicht wenigstens meinen unansehnlichen Körper
haben, damit ich etwas vor ihm voraus habe.
Und der gütige Traumgott erfüllt diesen heißen
Wunsch. Denn der andere im Traume Eckermann's ist
Goethe. Er kennt keinen andern, der in Betracht
käme. Goethe tauscht mit ihm seine Gestalt,
die nicht einmal so übel ist. Es findet sich auch eine Anspielung
auf die in Eckermann schlummernden Anlagen,
die er nicht recht zu gebrauchen weiß. Was andere aus
diesen Anlagen alles machen würden! Alle geheimen
Wünsche gehen dem Schreiber in Erfüllung. Er ist so
schön, daß er sich nackt zeigen kann, ohne zu erröten.
Er ist kräftig und strotzt von Lebensmut. Und er ist
Goethe und Goethe ist Eckermann. Ein so leicht begreiflicher
Wunsch! Einmal in der Nacht will der arme Sklave
der Herr sein und sich aller Welt als Herrn zeigen können.
Wahrlich dieser Traum ist rührend und ergreifend. Man
versteht das Maß von Unterdrückung, das der dienende
Mensch aufbieten muß, um dienen zu können. Jede Unterwerfung
ist ein Opfer. Wie glücklich, daß wir den Traum
besitzen, wro wir Könige sein können und alle Unterwerfung
; ein Ende hat. Die verschiedenen Revolutionen sind
nur Versuche, die Träume ins Leben zu übersetzen.
Aber der Traum von Eckermann hat noch eine tiefere
Bedeutung. Er geht auf die Urkräfte des Lebens zurück.
Das Meer ist die Mutter alles Lebens. Aus dem Meere
stammt alles Dasein dieser Welt. Eckermann wird vom
Meere neu geboren. Er macht seine Schöpfung noch einmal
mit. Diesmal gelingt es der Mutter Natur besser, ein
vollkommenes Meisterstück zu liefern. Er wird wiedergeboren
. Er kommt noch einmal auf die Welt. Da wird
er der Goethe und Goethe der Eckermann, aber ein viel
schönerer Eckermann, denn der Schreiber ist gnädig gestimmt
gegen seinen Herrn. Der Traum sehließt ja mit
dem Eindruck „einer künftigen Existenz in einem anderen
Leibe".
Wie viele Menschen gehen in ihren Träumen auf ihre
eigene Schöpfungsgeschichte zurück! Wer sich viel mit
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