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394 Psychische Studien. XL. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1913.)
Träumen beschäftigt, muß sich wundern über die Fülle von
Mutterleibsphantasien und Geburtsträumen, welche die
Menschen produzieren.
Selbst Vaterleibsträume, deren Erforschung ich in der
letzten Zeit in Angriff genommen habe, sind enorm häufig.
Wir verfolgen in unseren unbewußten Phantasien unsere
Geschichte so weit wie möglich. Wir machen es wie mit
der Geschichte der Menschheit. Wenn die historisch beglaubigte
Vergangenheit aufhört, setzt die phantastische,
mythenbildende Traumproduktion ein. Auch Eckermann
träumt einen neuen Schöpfungsakt, bei dem seinen Erzeugern
die Sache besser gelingt.*)
Goethe kannte, wie aus seinen Bemerkungen zu Eckermann
hervorgeht, die wunscherfüllende Kraft des Traumes.
Er liebt es, in seinen Werken besonders (wie Hebbel und
Shakespeare) den Traum als Propheten zu benützen.
Dabei erreichen seine Traumbilder eine unheimliche Wahrheit
und gleichen wahren Träumen, sind vielleicht eigenen
Träumen entnommen. So schläft Wilhelm Meister bei der
schönen Marianne und ahnt im Traume das Ende seines
schönen Glückes. Er stammelt ängstliche unvernehmliche
Töne. Marianne weckt ihn, und er ist glücklich, der Hölle
der Traumbilder entrissen worden zu sein. Er gesteht ihr:
„Mir träumte, fuhr er fort, ich befände mich, entfernt von
dir, in einer unbekannten Gegend; aber dein Bild schwebte mir
vor; ich sah dich auf einem schönen Hügel, die Sonne beschien
den ganzen Platz; wie reizend kamst du mir vor! Aber es währt
nicht lange. so sah ich dein Bild hinuntergleiten , immer hinuntergleiten
; ich streckte meine Arme nach dir aus, sie reichten
nicht durch die Ferne. Immer sank dein Bild und näherte sich
einem großen See, der am Fuße des Hügels weit ausgebreitet
lag, eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal gab dir ein Mann
die Hand; er schien dich hinaufführen zu wollen, aber leitete
dich seitwärts und schien dich nach sich zu ziehen. Ich rief, da
ich dich nicht erreichen konnte, ich hoffte dich zu warnen.
Wollte ich gehen, so schien der Boden mich festzuhalten; konnte
ich gehen, so hinderte mich das Wasser, und sogar mein Schreien
erstickte in der beklemmten Brust."
Wie ähnlich ist dies Traumbild dem Traume der jungen
Dame, mit dem ich diese Ausführungen eingeleitet habe!
Auch Wilhelm Meister steht vor dem Wasser und
streckt sehnsuchtsvoll die Hände aus. Auch das Bild der
Geliebten entschwindet, es versinkt in einem Sumpfe, der
das Laster symbolisieren soll.
*) Über die Symbolik der Vaterieibsträume wäre noch
mancherlei zu sagen. Ein Moment möchte ich hier hervorheben.
Schwimmende Männer und Frauen symbolisieren sehr häufig Samenfäden
, und eine Menge von Menschen auf einer Insel oder im Wasser
geht ebenfalls auf gleiche Bilder zurück.
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