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Stekel: Der tiefe Brunnen.
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Freud hat in einer sehr interessanten Abhandlung „Der
Wahn und die Träume in Jensen's Gravida* (Schriften zur
angewandten Seelenkunde, 2. Auflage. Franz Deuticke.
Wien und Leipzig, 1912) den Nachweis geliefert, daß die
Träume Jensen's, die er willkürlich konstruiert hat, den
Gesetzen der Traumdeutung vollkommen entsprechen. Ich
habe Jensen angefragt, ob er die Traumdeutung von Freud
kenne, und erhielt ein sehr liebenswürdiges Schreiben, das
besagt, er habe keine Ahnung von einer Tiaumdeutung
und habe sich die Geschichte aus den Fingern gesogen.
Auch der Traum Goethe's entspricht den Gesetzen der
Traumdeutung .... Sehr treffend ist die neurotische
Hemmung dargestellt.
Und ist es nicht merkwürdig, daß der große Dichter
Goethe und die unbekannte kleine Frau, deren Traum wir
eingehend analysiert haben, so ähnliche Träume konstruiert
haben? Und müßte man einen Preis für die poetische
Schönheit zuerkennen, Eckermann und die verlassene Frau
würden Goethe schlagen ....
Jedermann kann nur sich träumen. Jeder muß von
seinem Berufe träumen Es ist leicht zu ersehen, wie in
alle Dichterträume die Hoffnung und der Zweifel inbezug
auf das Schaffen mächtig hineinspielen. Auch im Traume
des Wilhelm Meister können wir die Zweifel Goethe's an
seiner poetischen Sendung herausfinden. Marianne wird die
Muse, die erst steigt und dann dem Dichter unwiederbringlich
entgleitend verschwindet .... Wir denken an das
herrliche Gedicht „ Zueignung % da die Muse dem Dichter
erscheint und ihm ein Geschenk bringt:
„Aus Morgenduft und Sonnenklarheit
Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit/
Es ist einleuchtend, daß der Schleier der Dichtung
auch andere Elemente enthält als „Morgenduft und
Sonnenklarheit*. Aber die Muse meint auch: „Ich kenne
dich und kenne deine Schwächen* .... Wir werden
lernen, daß die Schwächen die Wurzeln der dichterischen
Kraft sind. Aus den Schwächen entwickeln sich die
Tugenden. Und es gibt keine Tugend, der nicht eine
Schwäche entspricht.*)
*) Als Nachtrag zu unserer Besprechung des klassischen Hauptwerks
des Verfassers: „Die Sprache des Traums* (s. Aprilheft er.,
8. 246—48) erlauben wir uns noch auf ein kleines philologisches
Versehen aufmerksam zu machen, das sich dort in einer Fußnote
auf S. 219 findet. „Das alte Weib" heißt lateinisch anus, gen. anus
(nicht aneris!) fem., dagegen anus, gen. ani (nicht anus!) masc. „der
Kreis", euphemistisch für „After". — Eed.
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