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410 Psychische Studien. LX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1913.)
dem Messias beigelegt hatte: auf einer Eselin reitend, wie
es bei Saeharja 9, 9 hieß von dem „messianischen Könige":
„Du Tochter Zion, freue dich! Du Tochter Jerusalem,
jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter
und ein Helfer, arm, und reitend auf einem Esel und auf
einem jungen Füllen der Eselin." —
So lösen sich ungezwungen alle Rätsel, die noch heute
so vielen Menschen Kopfzerbrechen machen, und wir bekommen
auf diese Weise ein Bild vom Leben und Denken
Jesu, wie wir es besser gar nicht erwarten können; wir
brauchen uns nur an die Uberlieferung zu halten, wie sie
uns von diesem Leben vorliegt. Auch hier bestätigt sich
wieder das, was für den, der genauer mit der antiken
Überlieferungsgeschichte bekannt ist, öfters zutage tritt:
daß mitunter gerade die Uberlieferung, die man von vornherein
mit berechtigtem Mißtrauen ansehen muß, besser ist,
als eine andere, die mit großen Ansprüchen auftritt, um bei
näherer Prüfung Fehler über Fehler und Ungenauigkeiten
über Ungenauigkeiten aufzuweisen. Man könnte allerdings
einwenden, daß dieses Bild, das wir auf diese Weise von
Jesus gewonnen haben, durchaus nicht zu dessen Vorteil
ausgefallen sei: es sei das Bild eines Phantasten, der, in
den Anschauungen seines Volkes und seiner Zeit befangen,
nie über jene vage Hoffnung hinausgekommen sei/daß die
Gottheit um seinetwegen in kurzer Zeit die Welt umstürzen
werde — Vorstellungen, die dazu auf völligem Mißverständnis
von dem Werden solcher religiösen Begriffe
beruhten. Dem ist entgegenzuhalten, daß Jesus diese Vorstellungen
mit allen seinen Zeitgenossen geteilt habe, wie
denn auch der Wiederkunftsglaube von der ersten Christengemeinde
auch gar nicht als phantastisch empfunden
wurde; daß die Zeit, in der sie lebten, sowie der Charakter
dieses ganzen Volkes durchaus nicht an unseren Verhaltnissen
zu messen ist, sondern höchstens mit denen zu vergleichen
, wie sie heute noch im Orient existieren, zum
mindesten in den südlichen Ländern Europas, wo eine
andere Sonne und eine andere Natur andere Menschen, wie
wir sind, geschaffen haben. Und dazu bildeten ja bei Jesus
diese Vorstellungen nur den Rahmen zu etwas Anderem:
zu dem sittlichen Werke, das er während seines kurzen
Erdenlebens an seinem Volke vollbrachte, der Umgestaltung
der vorhandenen religiösen Werte, wie sie seiner religiösen
Genialität entsprechen mußte. Man findet daher
neben den früher erwähnten Worten von Jesus solche, die
ganz aus diesem Gefühle herausgesprochen sind, daß das
Reich Gottes eigentlich jetzt schon da sei und gar nicht
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