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416 Psychische Studien. XL. Jahrg. 7. Heft, (Juli 1913.)
Orients: eine Frau, die tiberall bei den Nachbarn und Bekannten
ihren Groschen sucht, den sie verloren hat, ein
andermal Mädchen, die in der Nacht aufstehen und die
Leuchte nehmen, weil der Bräutigam kommt, und dann
wieder ein Sohn, der eines Abends nach Hause kommt,
nachdem er all sein Hab und Gut in der Fremde durchgebracht
hat, und dem sein Vater entgegengeht und verzeiht
, da sein Sohn wiedergekommen ist und ein reuiges
Herz mitgebracht hat. Dazu endlich alle Ansdrucksforcnen
und Seelenregungen einer reichen Persönlichkeit, bald voll
von Ironie (Matth. 22, 41), ja Paradoxie (Matth. 5, 29;
11, 23; Mark. 10, 25; Luk. 14, 26), die zuweilen bis zur
schneidendsten Schärfe gehen können (Matth. 8, 22) , bald
überströmend von Optimismus (Matth. 6, 25), bis zur
kindlichen Naivetät (Mark. 11, 23; Luk. 10, 18), — über
allem aber das Bewußtsein, das alles im Auftrage Gottes zu
tun, einen Kampf zu führen mit den bisherigen Verhältnissen
, da nur dann eine Erneuerung möglich sei (Matth. 10,
34—39 u. a.).
Allerdings ist auch hier eins nicht zu vergessen: viele
diese Worte mögen später an eine falsche Stelle geraten
sein, wo sie in eine schiefe Beleuchtung gerieten; um jedes
einzelne Wort richtig zu verstehen, mußten wir genau den
Anlaß kennen, an dem sie gesprochen sind. Daher ist es
auch grundfalsch, einzelne solche Worte (z.B. Jesus mit den
Müttern, die ihre Kinder zu ihm bringen) aus dem Zusammenhange
herauszureißen und nach diesen sich ein
Christusbild zu konstruieren: nur die gesamte Uberlieferung
läßt hier zu einem richtigen Urteile gelangen.
Und dieses Urteil kann kein anderes sein als dies, daß die
teleologische Seite in diesem Leben eine grundlegende Bedeutung
gehabt hat, da das treibende Moment darin
der religiöse Genius gewesen ist, auf den wir später
noch näher eingehen werden. Daher ist auch Jesus kein
Prediger im gewöhnlichen Sinne und sein Leben ist auch
nicht in der Stille eines solchen verlaufen, sondern es ist
eine Tragödie geworden, deren Wirkungen unabsehbar geworden
sind für die Geschichte der Menschheit, wie das
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schon der Verfasser des ältesten Evangeliums gespürt hat:
für ihn ist — das zeigt deutlich die Komposition seines
Werkes — das ganze Leben Jesus nichts als eine Vorstufe
zu seinem Tode, mit dem Jesu sein Werk krönen sollte.
Und dieselbe Auffassung hat instinktiv auch die ganze
Kirche bis in die Neuzeit gehabt; erst im 19. Jahrhundert
verschob sich das Schwergewicht einigermaßen zugunsten
der ethischen Wirksamkeit, und von hier aus veränderte
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