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480 Psychische Studien. XL. Jahrgang. 8. Heft. (August 1913.)
vielleicht kam dazu auch die Ahnung, daß sein Werk in
diesem Falle rettungslos verloren gewesen wäre. Daher
ist auch sein Einzug in Jerusalem nicht die „Ahnung*
seines baldigen Geschicks, sondern nur die richtige Konsequenz
aus seinem bisherigen Leben; es scheint beinahe so,
daß er dies Ende (wohl unter dem Einfluß der Weissagungen
von dem leidenden Messias) selbst beschleunigt hat.
Er mußte also von der Notwendigkeit seines Todes
überzeugt sein, ja sogar glauben, daß sein Tod, da er, Jesus,
J'a selbst von Gott gesandt worden war, eine von der Gott-
leit selbst gewollte Notwendigkeit sei. Nur noch ein
kleiner Schritt, bei dem wahrscheinlich wieder jene alt-
testamentlichen Vorstellungen von dem „Lamme Go!tes« ein-
gewirkt haben mögen, führte dann zu der Anschauung,
daß dieser Tod für die Menschheit segensreich sein werde:
Jesus krönte damit ja nicht nur seine segensreiche Tätigkeit
für die Menschheit, sondern er ermöglichte auch dadurch
das Kommen jenes Reiches Gottes auf Erden, das
bei seinen Lebzeiten nicht erschienen war. Ja noch mehr:
wenn der Tod der Heiligen, wie es im Psalm hieß, von
Gott wert geachtet war, wieviel mehr dann der Tod seines
Auserwähken? Gott wird ihn gelten lassen als Siegel und
Bewährung des neuen Bundes, den sein Knecht gestiftet
hat zwischen ihm und seinen Gläubigen; daher hält Jesus
in prophetischer Ahnung ein zweites Mahl, wie die Israeliten
einst das Passah: das war der zweite Bund, der zum
Heile der Menschheit geschlossen war (Otto, S. 46). Soweit
also die Anschauung Jesu, die daher natürlich nichts
von der „zürnenden* Gottheit weiß, welche durch das Opfer
ihres Sohnes versöhnt werden mußte. Diese Anschauung
konnte erst nach dem Tode Jesu entstehen, obwohl auch
sie nur einen Schritt weiter steht in jener Gedankenreihe:
als die Jünger Jesu sich unter dem Eindrucke der Hinrichtung
ihres Meisters fragen mußten, warum er alle diese
Leiden erdulden mußte, fanden sie als echte Kinder ihres
Volkes nur eine Antwort: es war ja das alles geweissagt
worden in den heiligen Schriften; aber warum mußte es so
geschehen ? Weil die zürnende G.o tt h e i t, von
der diese Schriften redeten, wenn sie jetzt,
wie Jesus verkündigt hatte, eine gnädige
war, vorher versöhnt werden mußte, also
doch wohl durch jenen Tod, dessen Ursache
sie sich sonst nicht zu erklären vermochten
(Römerbr. 5, 2).
So mochte ungefähr der Gedankengang der Anhänger
Jesu nach seinem Tode gewesen sein, und man sieht dabei
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