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520 Psychische Studien. XL. Jahrg. 9. Heft. (September 1913.)
hängnisses im Grunde genommen nichts weiter ist als ein
Trugbild. Es wird eine Zeit kommen, wo die Welt kein
Bedürfnis für Armeen, scheinheilige Religionen und entartete
Kunst mehr haben wird. Leben ist Entwicklung und
diese besteht in der Entfaltung einfacher Lebensformen zu
immer komplizierteren Formen des Geistes und des Körpers.
Ich sehe den trüglichen Schein der Leidensehaft, wie ihn
das Weltdrama gegenwärtig zeigt, allmählich vergehen wie
das Frührot auf den Bergen. Noch eine Handbewegung
der Metze Gewinnsucht (Kommerzialismus) und eine neue
Geschichtsepoche beginnt/
*
Die hier geschilderte „prophetischetf Vision soll Tolstoi
im Jahre 1910 erfahren habep. Sie wurde zuerst von der
Gräfin Nastasia Tolstoi in der „Semi-raonthly Magazine
Selection of the Chicago Tribüne* veröffentlicht und in der
Zeitschrift „The Progressive Thinker* vom 19. April 1913,
aus welcher ich sie für die «Psychischen Studien* übersetzte,
abgedruckt. Herrn Professor Eeichel (New-York), dessen
Güte ich das betreffende Blatt verdanke, sei an dieser
Stelle hierfür innigster Dank gesagt.
Es war nicht meine Absicht mit dieset Ubersetzung
die aus der Unsicherheit der politischen Situation der Gegenwart
entspringenden zahlreichen Zukunftskonjekturen, wie sie
sich in den deutschen okkulten Zeitschriften vorfinden, noch
um eine weitere zu vermehren, wiewohl eine solche, die aus
einem Geiste wie Tolstoi hervorging, gewiß ein mehr als
gewöhnliches Interesse beanspruchen darf; dasjenige was
mich hierzu bewog, ist die darin enthaltene Warnung vor
der Gefahr, welche der Menschheit aus dem Dominieren
des Handelsgeistes erwächst.
Allerdings kommt dieser höchst beachtenswerte Warnruf,
wie mich dünkt, schon viel zu spät, denn schon drückt das
gesamte Geistesleben der Nationen die fauligen Brand erzeugende
eiserne Fessel jener allerniedersten Gesinnung, die
den materiellen Vorteil als höchstes Qut verehrt und ihn
zur obersten Norm alles Tuns und Lassens macht; aber er
möge schon deshalb bei uns nicht ungehört bleiben, weil er
uns deutlich erkennen läßt, daß alle derartigen Unheils-
Verkündigungen mehr auf einem dunklen Vorempfinden der
aus Unrecht folgenden notwendigen Konsequenzen, als auf
einem klaren Voraussehen kommender Ereignisse beruhen.
Was die Vorhersage Tolstoi'^ anbetrifft, so deutet sie viel
weniger auf den natürlichen Gang der Dinge, wie er aus ihren
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