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Kaindl: Kommerzialismus, eine Vision Tolstoi's. 521
objektiven Verhältnissen entspringt, als vielmehr auf einen
solchen, wie er der Subjektivität Tolstoi's entsprechen würde.
Die Vision oder Gesichtshalluzination kann, da sie nicht
nur die Projektionen unterbewußter, sondern auch die bewußter
Gedanken betrifft, ebensowohl eine veridike, wie eine falsidike
sein; die Tatsächlichkeit der Vision Tolstoi's brauchte man
also auch dann nicht zu bestreiten, wenn sich später ihre
Vorandeutungen nicht erfüllen.
Der in Tolstoi's Vision sich darstellende verderbliche
Einfluß des Handelsgeistes auf das gesamte Leben erreichte
erst seinen Höhepunkt, als er sich in der Nationalökonomie
zu einem wissenschaftlichen System ausgestaltet hatte.
Die Lehren dieser neuen Disziplin, in?s praktische Lebeii
umgesetzt, erniedrigte die Menschheit zu einer bloßen Produktionsgenossenschaft
, in der jeder einzelne Mensch nur
als gütererzeugender Faktor in Betracht kommt.
Der durch die Nationalökonomie systematisierte und
dann durch die Politik organisierte Handelsgeist oder Kom-
merzialismus machte die Wissenschaft allmählich zu seiner
Sklavin, die all ihre Kräfte in den Dienst des Handels und
der Industrie, des Verkehrs- und des Kriegswesens zu stellen
hatte; er bediente sich der bestehenden Religionen als Zaum
und Zügel für den freien Geist mit völliger Lahmlegung
ihrer reformatorischen Kraft; ' er beraubte die Kunst ihres
Idealismus im Realismus (Verismus, Naturalismus) und erniedrigte
sie im Reklamewesen zur Straßendirne.
Dieser, jeden Idealismus zerstörende Handelsgeist trägt
aber sein eigenes Gift in sich, dem schließlich alle seine
Entwicklungen zum Opfer fallen müssen; und dieses ätzende
Gift, dem auf die Dauer nichts widersteht, ist die Korruption,
die Feindin aller sozialen Entwicklung und die Mutter der
Anarchie.
„Die Eintracht und das Glück der Menschheit wird
Dem .Reichtum, aufgeopfert; sie allein,
Die ihm den Himmel hier erzaubern könnten,
Sie werden eingetauscht für Seelengift.
Die gold'ne Last beschwert den Nachen, der
Sein Hoffen trägt, raubt jede Aussicht ihm
Als selbstischen Gewinn, erstickt (bis auf
Die Frucht) jedwede Leidenschaft in ihm;
Sie löscht der Liebe heü'ge Flammen aus,
Den Mut, zu wagen und die hehre Lust,
Mit vollem Mitgefühl dem Freund zu helfen,
Sie dämpft des jungen Herzens raschen Schlag —
Läßt nichts als Eigenlieb' und Freud' am Gold."
P. B. Shelley.
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