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Hänig: Das Christusproblem des Okkultismus. 523
Allerdings könnte noch ein Vorwurf gegen diese Anschauungen
vorgebracht werden und ist auch tatsächlich
oft vorgebracht worden: die ganze Geschichte des Christentums
, die ja auf dem Glauben von dem „leeren Grabe * beruhe
, könne doch nicht auf Grund eines Selbstbetrugs oder
Irrtums entstanden sein, wie er größer gar nicht gedacht
werden könne. Dem ist entgegenzuhalten, daß diese Geschichte
des Christentums selbst voll gewesen ist von Irrtümern
bedenklichster Art: in sittlicher (Ketzer- und
Hexenverfolgungen) und anderer (Glaube an die ewigen
Höllenstrafen, Bekämpfung der Wissenschaft) Hinsicht, daß
aber andererseits die positiven Leistungen des Christentums
nicht an den gestorbenen und „auferstandenen* Jesus
anknüpfen, sondern an den lebenden; er ist es gewesen,
durch dessen Vorbild und dessen Predigt das Senfkorn
entstand, das nachmals ein großer Baum geworden ist, wie
er selbst vorausgesagt hat.
(vorausgesetzt, daß diese in jedem Menschen schlummern und Dicht
nur in anormal Begabten) an eine höhere sittliche Stufe gebunden
sei, so müsse umgekehrt jene Ausbildung auch ein höheres Wissen
zur Folge haben, das durch das Erwachen des inneren Menschen
(der zeitlich und räumlich unbegrenzten Seele) bei dieser Gelegenheit
vermittelt werde. Nun zeige aber Jesus tatsächlich höhere
magische Fähigkeiten, die nicht>nur, um in d#r Sprache dieser
Bücher zu reden, der zweiten Stufe dieser Entwicklung (Heilungen
mitunter erstaunlichster Art, auch auf größere Entfernungen hin),
sondern auch der höchsten, der dritten, angehören (Wandeln auf
dem See = Aufhebung der Schwerkraft, Verwandlung des Brotes
in Wein, Speisung der Fünftausend etc.); daher könne unmöglich
angenommen werden, daß Jesus, da er über solche Kräfte verfügt
habe, die beschränkten Ansichten seiner Zeit gehabt habe (siehe
Brandler-Pracht: „Lehrbuch der okkulten Kräfte des Meu-
schen," 2. Aufl., S. 253 ff.). Dem ist zu entgegnen, daß jene
„Wunder* der dritten Stufe für uns zunächst, zum Teil wenigstens,
noch ganz problematisch sind, obwohl (besonders über die Auflösung
der Materie in ihre Aggregate) mehrfach Berichte aus
unserer Zeit darüber vorhanden sind; daß ferner gerade diese
Wunderberichte im neuen Testament zu den am wenigsten beglaubigten
gehören, die mitunter auch eine andere Deutung zulassen
(besonders das Wandeln auf dem See; zu der Speisung der Fünftausend
vergl. die Steigerung der einzelnen Berichte in den Evangelien
; die Verwandlung des Wassers in Wein findet sich nur im
Johannesevangelium) und daß daneben Berichte von Wundern
stehen (ein Teil der Totenerweckungen), mit denen auch der Okkultismus
nichts anzufangen weiß. Daß aber solche höhere Kräfte im
Menschen durchaus nicht immer eine höhere Erkenntnis voraussetzen
, zeigt die ganze Geschichte des Okkultismus zur Genüge.
Es werden nicht nur zahlreiche „Wunder* von Heiligen aus dem
Mittelalter berichtet, die den okkulten Phänomenen völlig entsprechen
, ohne daß diese an Erkenntnis über ihre Zeit hinausgegangen
wären, sondern wir haben auch aus neuerer Zeit mehrfach
treffende Beispiele: JSwedenborg's völlig beglaubigte Sehergabe,
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