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Hänig: Das Christusproblem des Okkultismus. 529
in letzter Hinsicht eine Frage des Okkultismus: der Ursprung
dieser genialen Anlage muß dann allerdings außerhalb
dieser Welt gesucht werden, nur daß es sich hierbei
nicht um Jesus allein handelt, sondern um jede wirkliche
Genialität, soweit sie je unter den Menschen hervorgetreten
ist, ja im letzten Grunde um alles das Erhabene und
Große, dem wir auf dieser Erde einen Ursprung nicht
nachzuweisen vermögen. Und darauf werden wir auch hingewiesen
, wenn wir die Zeit berücksichtigen, in der das
Alles geschehen ist. Gibt es im Leben des Einzelmenschen
wirklich so etwas wie ein Schicksal, so muß das doch wohl
auch bei den Völkern selbst der Fall sein und wir müssen
den Grund dazu nach allen bisherigen geschichtlichen Erfahrungen
in erster Linie eben in dem Auftreten solcher
genialen Menschen suchen, wie Jesus einer gewesen ist.
Dann kann aber auch ihr Kommen nicht auf einem bloßen
Zufall beruhen, sondern sie kommen, wenn ihre Zeit da ist,
d. h. wenn die Verhältnisse so liegen, daß das Neue, was sie
bringen, auch wirklich Wurzel schlagen und gedeihen kann.
Dann liegt es aber eben von vornherein nahe, nicht an den
Ursprung des Genies durch Vererbung zu glauben, sondern
ihn in jenem Höheren zu suchen, das nicht aus der Endlichkeit
stammt, sondern von der Gottheit, in der auch
Jesus seinen liebenden Vater erkannte. Und dann werden
sich vielleicht auch jene Parteien zu einer Anschauung zusammenfinden
, die sich jetzt erbitterter als je gegenüberstehen
, indem die einen in dem historischen Jesus einen
Gott, die anderen einen Menschen sehen; sie werden vielleicht
verstehen, daß sie beide recht gehabt haben und nur
ihr Standpunkt verschieden war, der einen, da sie nur die
irdischen Verhältnisse berücksichtigte, während die andere
nur das Außerirdische ansah, das zeit- und raumlose Sein,
das sich nur flüchtig in dem Endlichen spiegelt.*)
Dazu hat es freilich noch eine gute Weile; denn zu
einem Verständnisse des Menschen in dem Sinne, wie er
*) Anm. Ich denke hier natürlich an Anschauungen, die sich
vielfach bei neueren Philosophen, wenn auch m verschiedener
Weke, finden, daß nämlich unser körperliches Bewußtsein nichts
sei als das für unser Leben direkt oder indirekt eingestellte Allbewußtsein
, das wir Gott nennen, daher alles Bewußtsein von diesem
Allselbstbewußtsein ausgehen und zu ihm zurückkehren müsse.
Unser Ich sei also nichts Anderes als eine andere Bewußtseinsform
jenes Allbewußtseins, das daher beständig im Hintergrunde unserer
Persönlichkeit stehe, eine Auffassung, die freilich nur zur Erklärung
der Genialität Jesu heranzuziehen wäre, nicht aber seiner eigenen
Worte, da er nach der Überlieferung der ältesten Evangelien sich
seinen Vater im Himmel bis zuletzt (cfr. das Kreuzeswort) nie
anders als nach der Weise seines Volkes vorgestellt hat.
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