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536 Psychische Studien. XL. Jahrg. 9. Heft. (September 1913.)'
schwömmen* Zwecke ahnenden „Monade*
geleitet wird.
Daher sind auch die Instinkte, Neigungen und Ten-
denzen der Psyche des Einzelwesens beim niedersten sowie
beim höchsten Tier stets diejenigen der ganzen Spezies,
welche wohl durch die durch Übung und Erfahrung später
erworbenen Fähigkeiten und die individuelle Intelligenz
des Einzelwesens etwas modifiziert oder bis zu einem
gewissen Grad gesteigert, aber niemals verändert
werden können. Ein Tiger mag die anderen an Grausamkeit
übertreffen, ein Fuchs seine Schlauheit durch individuelle-
Anlagen auf eine höhere Potenz bringen, im übrigen bleibt
er aber, was die andern seiner Spezies sind. Ebenso ist
der Kunstsinn der Tiere, der Vögel, Bienen, Ameisen usw.
kein durch Übung, Erfahrung usw. sich ergebendes Produkt,
sondern es ist ein durch die von jener obersten Intelligenz
für die betreffende Spezies geplanten und dem Organismus
eingepflanzten Fähigkeiten und Tendenzen Yorgeschrieben
es und Gegebenes, welches selbst das höchste Tier
nicht zu verändern oder zu überschreiten vermag, weil seiner
Psyche der dazu nötige Bestandteil fehlt.
„Die Seele des Tieres ist eine Zweiheit, die des
Menschen eine D r e i h e i t." (Seneca.)
Die Handlungen des Tieres sind bestimmt durch
Triebe und durch einen durch die Spezies limitierten
Verstand; die des Menschen durch Triebe,
einen entwicklungsfähigen Verstand und durch
Vernunft — Gewissen, Moralgefühl und altruistische
Emotionen. Durch dieses dritte, göttliche Prinzip, wird
die Psyche des Menschen ein potentiell unvergänglicher
Organismus, was zugleich auch ihren wesentlichen
Unterschied konstituiert gegenüber der Psyche des Tieres.
Denn obwohl sich bei den höheren Tieren schon hie und
da „Ansätze" jenes Prinzipes bemerklich machen, so ist
dasselbe doch immer nur rudimentär und embryonisch, und
kann sich mit der Psyche nicht amalgamieren, sondern
bleibt latent. Deshalb kann die Tierpsyche auch niemals
die hohe Stufe der menschlichen erreichen und ist und
bleibt vergänglic h *) Denn alle diese unsichtbaren Prinzipien
, die plastogenen, gestaltbildenden Faktoren, welche
den Unterschied bilden zwischen den Schöpfungen und
Gebilden in den verschiedenen Reichen der Natur, ent-
*) „Vergänglich" als solche, aber doch wohl entwieke-
lungsfähig zu höheren Stadien, die dann im denkenden Menschen
schließlich zu klarem BewuOtsein führen. — Mai er.
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