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544 Psychische Studien. XL. Jahrg. 9. Heft. (September 1913.)
es teilt werden könnte, daß das Leben des
eistes weiter ist das des Gehirns, dann
würde die Wahrscheinlichkeit zu Gunsten
des Fortlebens des Geistes sprechen, weil
der einzige Grund für den Glauben an eine Auflösung des
Geistes mit dem Tode von der Auflösung des Körpers hergeleitet
wird." Professor Bergson bezeichnet es als eine
glückliche Fügung, daß die Studien der Seele so spät eingesetzt
haben. Was wäre geschehen, wenn die großen
Meister der Wissenschaft ihren Genius einer Erforschung
der Seele zugewandt hätten! Die Psychologie würde dann
bereits eine Stufe erreicht haben, von der wir keine Vorstellung
besitzen. Die Biologie würde eine ganz andere
geworden sein, da sie mehr von der Seite des Lebens, als
von der des Stoffs studiert worden wäre. In der Medizin
würde die Suggestion eine für unsere heutige Auffassung
unbegreifliche Wichtigkeit gewonnen haben. Psychische
Methoden würden auf die Materie angewandt worden
sein, und die Welt des Stoffs würde voll von
Mysterien erscheinen. (Ja, würde denn die
„ Wissenschaft * das für ein Unglück halten? Was für armselige
Menschen müßten das sein, die so „ wissenschaftlichÄ
zu sehen gelernt haben, daß sie in der Welt des Stoffs die
lebenden göttlichen Wunder — „Mysterien* — nicht mehr zu
schauen vermögen? Die Red.) Im Leben ist die Annäherung
das Natürliche, die Präzision das Künstliche. Dank
den Naturwissenschaften, so schloß Professor Bergson, haben
wir gelernt, zwischen dem Gewissen, dem Wahrscheinlichen
und dem Möglichen zu unterscheiden, und diese Erfahrung
sollte jetzt auf das Studium der Seele angewandt werden.
Es wäre denkbar, daß dadurch Ergebnisse erzielt werden
könnten, die noch wertvoller wären (sehr richtig!
Die Red.) als alle Errungenschaften der Naturwissenschaft
. —
Bei der Bedeutung Bergson's und der Stelle, von der
er sprach, haben wir gern seine Ausführungen etwas weitläufig
wiedergegeben. Klingt doch aus allen Verteidigungsversuchen
der materialistischen, „allein wissenschaftlichen*
Methode der frostige Schauder vor der ewigen Eisnacht
dieses Weges und Forschungszieles deutlich heraus. Gerade
da, wo er verteidigt, zeigt Bergson die hoffnungslosen Sackgassen
, in die sich der Materialismus verrannt hat. Oder,
um im Bilde seiner Rede zu bleiben, könnte man sagen:
die Hoffnung, daß das Leben des Geistes als weiter denn
das des Gehirns zu erweisen sein möge, ist die Sehnsucht
der modernen Wissenschaft, sich aus der Wüste der seelen-
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