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Krziwan: Über die Wurzel des Okkultismus. 573
Minute, Tag und Nacht, Jahr für Jahr stammelte er dasselbe
Wort bis an sein Ende. Er schrieb es auf die Zinnen
der Berge, er ritzte es in den Kiesel des Weges, er übergab
es in tausendfacher Abschrift der Gebetmühle, dem
Wasser, dem Winde. Er schrieb es auf die Glocken und
in das Kohlenbecken der Räucherpfanne. —
Auch der Fanatismus der Wiederholung wurde variiert
bis zur raffiniertesten Spezialität: Hochhalten der Arme bis
zur pathologischen Erstarrung, Kriechen auf dem Bauche,
Stehen auf einem Beine, Wohnen auf einer Säule. Besonders
wichtig aber wurden die Mystiker, die ihr Leben
einem einzigen Gedanken geweiht hatten: sie dachten ihn
mit der Beharrlichkeit einer Naturkraft, immer nur den
einen, denselben Gedanken. Um Zerstreuung zu vermeiden,
gingen sie in die Wüsten, wohnten in Höhlen, mauerten
sich ein, ließen sich lebendig begraben. Wiederholungen
von grauenerregender Beharrlichkeit. Sie vernichtete die
Persönlichkeit und degradierte die Opfer zu Automaten.
So entstand der Tempelschläfer, der Traumredner, der
Vater des Mediums. Nun war die Zeit erfüllt. Diese beispiellose
Energie hatte ihren guten Grund. Sie war notwendig
, um ein großes Kunststück zu erlernen, das des
Paramaeciums. Der Fanatiker sollte lernen, sich psychisch
und physisch zu teilen, um die Vorstellungsgebilde der
Großzelle graphisch darzustellen. So kamen die beschränkten
Hilfsmittel der Verkleidung in Wegfall und der
ursprüngliche Prozeß war aufs äußerste abgekürzt. Das,
was früher religiöse Zeremonie gewesen war, erschien nun
in abstraktester Form, nur noch als ein Zeichen für den
Allerhöchsten, bloß ein Bild: ein Begriff der sozialen Zelle.
Der Zauberer, ein willen- und bewußtloses Instrument der
Kollektivzelle, wußte selber nicht, wie er das Kunststück
fertig brachte, und konnte daher das Geheimnis auch nicht
verraten. Die Bewunderung der Zeugen erreichte den
höchsten Grad, und die ganze Menschheit lag geblendet
vor der Gottheit im Staube. Es war erreicht. Damit war
aber auch eine Abkürzung und Verbesserung der physiologischen
Funktionen der Großzelle bedingt.
Die Materialisation ist nun auch ein leiser Anklang an
einen anderen physiologischen Prozeß der Kleinzelle. Es
ist folgender. Die Geschlechtszellen sind von einer feinen,
unsichtbaran Substanz, dem Chromatin, durchsetzt. Der
Prozeß der Kernteilung wird von einer Konzentration des
Chromatins begleitet, das sich in Form von Stäbchen,
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